Full text: Jahresbericht 1964 (1964)

wurde ein Gemälde «Die tote Stadt> (Oel auf Leinwand, 
80X80 cm bez. r. u.: Egon Schiele, 1912) erworben. Schiele 
(1890—1918), in dem sich, zusammen mit Klimt und Ko- 
koschka, der Hauptbeitrag Oesterreichs zur europäischen 
Kunst des 20. Jahrhunderts manifestiert, verdankt seinen 
Ruhm vor allem seinem zeichnerischen Werk. Nach Studien 
an der Wiener Akademie bei dem Feuerbach-Epigonen 
Griepenkerl, 1906—1909, gestaltete er, ausgehend von Klimt, 
Munch, Hodler, Lautrec und van Gogh, dem er auf einer 
Wiener Ausstellung 1909 begegnete, eine leidenschaftlich 
düstere, von Eros und Angst geprägte, durch die abgründige 
Macht der Geschlechter bestimmte Weltauffassung.'* Land- 
schaftliche Motive sind in seinem von der menschlichen Figur 
beherrschten schmalen (Fuvre vergleichsweise selten; zu- 
nächst unterstehen sie der sezessionistischen dekorativ orna- 
mentalen Flächenkomposition." Um 1912 kündigt sich eine 
Wandlung an, die, stilgeschichtlich gesprochen, zum Früh- 
expressionismus führt. Hier ist der «historische Ort» auch der 
«Toten Stadt»: an Stelle flächig stilisierter Gliederung tritt 
eine an van Gogh gemahnende, heftig deformierende, drei- 
dimensionale Raumdynamik, die in panoramatischer Aufsicht 
gewonnen ist. Bereits der Bildtitel weist auf die vorwaltende 
Stimmung: die Häuser sind verfremdet ins unheimlich 
Anthropomorphe; zumal der großen Giebelfassade mit den 
beiden blicklosen Fenstern, die links die Komposition domi- 
0 Vgl. Jacob Reisner, Zum zeichnerischen Werk des Oesterreichers Egon Schiele, 
in: Beiträge zur Kunstgeschichte, Eine Festgabe für H. R. Rosemann, München 
1960, S.337—348. Das Buch von Otto Nierenstein-Kallir, Egon Schiele (mit 
catalogue-raisonne), Berlin-Wien-Leipzig 1930, war mir nicht zugänglich. 
Zum Beispiel «Herbstbaum», 1912, Gerhard Schmidt, Neue Malerei in Oester- 
reich, Wien 1956, Abb. 18. 
Eng verwandt das Bild von 1915, «Der Häuserbogen»; Schmidt, a. a. 0., Abb. 19, 
Zu weiteren «Phantasie»-Städtebildern vgl. Katalog der Ausstellung «Gustav 
Klimt and Egon Schiele», The Solomon R.Guggenheim Museum, New. York, 
Februar— April 1965. Den Städtebildern scheinen zum Teil Erinnerungen an 
Krumau zugrunde zu liegen, von wo Schieles Mutter stammte. Ferner gibt es 
mindestens zwei «topographisch genaue» Ansichten von Stein an der Donau 
(1913; vgl. Kat. Guggenheim-Museum, Nr. 31 und 33). 
DA 
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