geeignet, dieser neuen Konzeption der Wirklichkeit Gestalt
zu leihen. Linien und Farben verselbständigen sich; sie ge-
winnen schrankenlosen Eigenwert. Das Kunstwerk wurzelt
nicht mehr in der Beziehung «Naturvorbild - Bild», sondern,
wie Kandinsky es formulierte, in der Beziehung «Innere
Welt - Bild». An die Stelle des der äußern Welt entliehenen
Motivs tritt ein Prinzip, das allem Gegenständlichen dia-
metral gegenübersteht, treten, übersetzt in Formen, Farben
und Linien, Sensationen der «inneren Welt», Das auf diese
Weise entstehende Gebilde lebt außerhalb der traditionellen
begrifflichen Kategorien von Raum, Zeit und Gegenstand.
«Ueberschreiten der kubistischen Körperlichkeit zwecks Er-
reichung der Poesie» — so hat Mirö selber den Sinn des
Prozesses charakterisiert. Seine Kunst nähert sich hier zum
erstenmal dem blühenden Geisterreich der Phantasie, der
heiter verspielten Imagination. Das ist fortan, bis zum heuti-
gen Tag, der eine Pol von Mir6s künstlerischer Produktion
geblieben.?
Auch Oskar Schlemmer erscheint, wie Schiele, erstmals
in der Kunsthaus-Sammlung: mit dem Bild «Unterwei-
sung» (Oel auf Karton, 67X66 cm, rückseitig bez.: «Unter-
weisung», Aug. 32, Oskar Schlemmer).*® Um 1932 hatte
Schlemmer längst seinen persönlichen, durch die Wirksamkeit
am Bauhaus (1920—1929) bestärkten Stil gefunden. Im
Zentrum dieser Kunstübung steht der Mensch, nicht als
individuelle Figur, vielmehr als stereometrisch-überindivi-
duelles Typuszeichen, das den figuralen Mittelpunkt einer
geometrischen Ordnung und Ortung abgibt.! «Ich will Men-
schentypen schaffen und keine Porträts ..., und ich will das
15 Vgl. dazu Eduard Hüttinger, Mirö, Bern 1957, S. 18 ff.
16 Hans Hildebrandt, Oskar Schlemmer, München 1952, Kat.-Nr. 227.
17 Vgl. Werner Haftmann, Malerei im 20. Jahrhundert, München 1954, S. 343.
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