herausgelesen werden, den vertrauten engen Wänden zu entfliehen. Be-
reits 1908 malt Chagall seine erste durch das geöffnete Fenster gerahmte
Landschaft®. Sogar der Blumenstrauß auf dem Fensterbrett, Innen- und
Außenwelt miteinander verbindend, findet sich schon in diesem frühen
Gemälde und legt ein Bildschema fest, das später immer wieder, und
besonders häufig im Laufe der zwanziger Jahre, zur Anwendung kommt.
Anläßlich der Landaufenthalte, die den Maler nach 1924 in die verschie-
densten Gebiete Frankreichs führen, sind zahlreiche Bilder entstanden,
die aus dem Zimmerinnern über Blumensträuße hinweg den Blick auf
die jeweilige Landschaft freigeben: so in Montchauvet 1925, in Mourillon
und Chambon-sur-Lac 1926, in den Savoyer Bergen 1928/50, und schließ-
lich in Peyra-Cava 19307. Daneben ist noch eine ganze Reihe von Blu-
menbildern zu erwähnen, die nach dem gleichen Fensterschema gemalt
wurden, örtlich jedoch nicht festzulegen sind®.
Landschaft und Blumen sind nach der Rückkehr nach Frankreich 1925
Chagalls bevorzugte Bildthemen. Beschäftigt sich der Maler mit figürli-
chen Szenen, so herrscht meist eine ländlich bukolische Stimmung, die
auch die beiden großen Illustrationsfolgen dieser Jahre, die Radierunge:1
zu Gogols «Toten Seelen» und die Gouachen zu La Fontaines Fabeln
prägt. Der vorwiegend heitere Charakter der Werke der zwanziger Jahre,
die auch das früher längst nicht so häufig dargestellte Zirkus- und Akro-
batenmotiv in spielerisch tänzerischem Sinn interpretieren, weicht somit
deutlich von den wilden, oft ekstatisch bewegten Szenen der ersten Pariser
Zeit um 1911/12 und den großartigen Kompositionen des zweiten Ruß-
landaufenthaltes ab. Die Begegnung mit der französischen Landschaft 1äßt
Chagalls Stil intimer, ruhiger, vorübergehend auch naturnaher werden,
Man kann sogar von einer gewissen klassizistischen Strenge sprechen, die
sich in unserem Fensterbild in der kühlen, distanzierenden Farbigkeit und
der gleichgewichtig ausgewogenen Komposition äußert. Die besondere
Stellung dieses Bildes in Chagalls Entwicklung liegt gerade darin begrün-