Volltext: Jahresbericht 1974 (1974)

von Frans Hals inspirierten Pinselschrift und der zarten Valeurmalerei 
zum Vorimpressionismus im Sinne Manets viel mehr Beziehung als die 
ikonenhaften Frauen in der Kirche zum Zeitstil um 1880. 
Wie lässt sich diese eigenartige Entwicklung Leibls erklären? 
Die Münchner Malerei jener Jahre wurde beherrscht von zwei Strömun- 
gen: die eine pflegte das Historienbild, die. grosse, vielfigurige szenische 
Komposition, die andere die Genremalerei, das Heimatbild im Sinne 
Defreggers. Beide Richtungen konnten Leibls aufs Wahrhaftige und Ehr- 
liche, aufs technisch Solide ausgerichteter Persönlichkeit nicht zusagen. 
Vor allem abgestossen haben ihn die ganze Münchner Künstlerwelt, die 
Atelierintrigen, das eifersüchtige Haschen nach Aufträgen und äusserem 
Glanz. Leibls Rückzug ins oberbayrische Land ist primär eine Flucht, eine 
Abwehrreaktion. Nicht wie die Maler von Barbizon, die «Naturschwär- 
mern» gleich aufs Land zogen, hat er 1875 das städtische Leben aufge- 
geben — sein Rückzug ist vielmehr ein Akt der Abkehr von einer über- 
hitzten Zivilisation. In diesem Sinne nimmt Leibl die wenig spätere 
Reaktion Gauguins vorweg, der aus den gleichen Motiven zuerst Pont- 
Aven in der Bretagne, später die Südsee aufgesucht hat. Leibls Ober- 
bayern ist somit Gauguins Bretagne durchaus vergleichbar. Die Parallelen 
gehen sogar noch weiter: Beide Künstler haben in ihrem Bestreben nach 
Wahrhaftigkeit und Einfachheit die jeweiligen ländlichen Bewohner ent- 
deckt und in ihren Bildern in einer für die Zeit völlig neuen Weise dar- 
gestellt — gerade weil sie auf die übliche genrehafte Verniedlichung ver- 
zichteten. Und merkwürdig: beide Maler haben auf ihrem Weg zu sich 
selbst ihre zuvor vergleichsweise impressionistische Pinselführung auf- 
gegeben, um sich einer mehr und mehr die präzise und geschlossene Form 
erfassenden Malweise zu bedienen. Nun soll freilich die Gegenüberstel- 
lung von Gauguins Cloisonnisme und Leibls exaktem Realismus nicht 
allzu weit getrieben werden — wichtig erscheint mir lediglich der Hinweis 
darauf, dass Leibls Suchen nach Quellen, die eine ursprünglichere und
	        
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