MARC CHAGALL, «ÜBER WITEBSK», 1922
Die heimatliche Szenerie von Witebsk, die Chagall in Paris aus der ver-
blassenden Erinnerung gemalt hatte, trat während seines aufgezwunge-
nen achtjährigen Aufenthaltes in Russland seit 1914 an ihn frisch und
eindringlich heran. Aus dem liebevollen Betasten dieser altvertrauten
Wirklichkeit resultierten ganze thematische Gruppen («Ich malte alles,
was mir vor die Augen kam»). Die topographische Retrospektive wurde
um ein später wiederkehrendes Motiv bereichert: Aus dem Fenster seines
neuen Ateliers bei einem Witebsker Gendarmen entdeckte Chagall die
Umgebung der gotischen Ilytsch-Kirche. Keine brüske Verwandlungen
kennzeichnen die verschiedenen Versionen dieser Vedute — darunter auch
die des Kunsthauses —, die er zur Raumfolie eines irrealen Geschehens
machte.
Gleich in seinem Ankunftsjahr 1914 stellte er sie viermal dar. Die erste
Studie (Privatbesitz, Leningrad, in: Franz Meyer, Marc Chagall, Köln 1961,
Kat.-Nr. 208) hält sich durch die Fussgängerperspektive, das dichte Her-
anrücken an die Wirklichkeit, die massiven, realistisch zitierten Einzel-
heiten im Kreis Chagallscher «Dokumente». Opake Farben — Braun,
Malachitgrün und Silber, das kompakte Schwarz des anekdotisch charak-
terisierten Kaftanjuden, der schreitend über dem gedrängten und am
Horizont geschlossenen Bautenkonglomerat hängt, verbinden diese erste
Idee mit dem Chiaroscuro der frühen Szenenbilder (zum Beispiel der
Geburt, 1910). In der zweiten Studie (Bleistift und Aquarell auf Papier,
Privatbesitz, Moskau; Meyer Kat.-Nr. 209) zeichnet sich das komposito-
rische Diagonalkreuz schon deutlich ab, und im Fluchtpunkt der Flemen-
tarperspektive erscheint, weiter entfernt, die Witebsker Kuppelkirche.
Das Haus links wurde für den freien Flug herabgesetzt. Der atmosphä-
rische Raum hat sich erweitert, und in der aufgehellten Tonalität des
Wintertages kommt der Pariser Einfluss zur Geltung.
Damit waren in Grundzügen die kommenden Varianten dieses Bild-
themas bestimmt. In der definitiven Ölfassung aus dem Jahre 1914
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