Volltext: Jahresbericht 1975 (1975)

sein Schaffen bestimmte, nachdem er zuvor 
schon in der milderen Landschaft der Brianza 
das Bauern- und Hirtenleben gemalt hatte, 
wobei Erlebnisse seiner frühen Jugend auf 
dem Lande mitwirkten. Was Segantini an den 
Alpen anzog, war ihre Unberührtheit und 
Grossartigkeit, aber auch das einfache Leben 
und Arbeiten der Bauern und Hirten mit 
ihren Herden, die in dieser strengen Welt 
tätig waren und sich zu behaupten wussten. 
Dazu kam das Licht, die strahlende Trans- 
parenz der Atmosphäre, die nicht nur die 
mächtigen Gipfel, sondern jeden Gegenstand 
zum Ereignis machen. Das Lichterlebnis 
spielte ja auch bei seinen Generations- 
genossen Gauguin und Van Gogh eine 
wichtige Rolle. Man darf wohl behaupten, 
dass bei keinem Künstler vor Segantini die 
Welt des Hochgebirges so entscheidend 
das Werk bestimmt hat. Nur Ferdinand 
Hodler, der gleichen Generation angehörend 
(geboren 1853), lässt sich in dieser Be- 
ziehung mit ihm vergleichen, wobei zu 
bedenken ist, dass Hodler Segantini um zwei 
für ihn entscheidende Jahrzehnte überlebt 
hat. Im Bestreben, der Helligkeit der Farben 
im Licht und der Durchsichtigkeit der Atmo- 
sphäre gerecht zu werden, gelangt Segantini 
zu einer eigenartigen Maltechnik. Er setzt 
längliche Pinselstriche reiner Farbe neben- 
einander und überlässt es dem Auge des 
Betrachters, die Mischung vorzunehmen. 
«Das Mischen der Farbe auf der Palette führt 
dem Dunkeln entgegen; je reiner die Farben 
sind, die wir auf die Leinwand bringen, 
um so besser führen wir unser Gemälde dem 
Licht, der Luft und der Wirklichkeit ent- 
gegen». So äussert sich der Künstler selber In 
einem Brief an einen Kunstkritiker. Es handelt 
sich also um eine sehr persönliche Form 
von Divisionismus, wie er ungefähr gleich- 
zeitig von den Neo-Impressionisten prakti- 
ziert wurde. Doch sind Beziehungen 
Segantinis zu den Künstlern dieser Richtung 
schwer nachzuweisen; auch ist seine Technik 
so persönlich und so sehr im Laufe der Zeit 
aus seinen künstlerischen Absichten heraus- 
gewachsen, dass sich die Übereinstimmung 
wohl eher aus der Zeitgenossenschaft als 
aus direkten gegenseitigen Beziehungen 
erklären lässt. 
In der Sammlung des Kunsthauses war 
Segantini bis jetzt vertreten durch eine sehr 
schöne und typische Landschaft aus Savognin 
mit einer strickenden Hirtin sowie durch 
zwei eindrucksvolle Nachtbilder mit den 
Bergen im Schneelicht. Diese beiden 
gehören zusammen und sind keine reinen 
Landschaftsbilder, worauf schon die Titel 
«Die bösen Mütter» und « Die Strafe der 
Wollüstigen» hinweisen. Es sind vielmehr 
Werke, die von indischen Märchen angeregt 
sind und in hervorragender Weise die sym- 
bolistische Strömung im Schaffen Segantinis 
belegen. 
Das Bild «I miei modelli», das die Vereinigung 
Zürcher Kunstfreunde 1975 erworben und der 
Sammlung des Kunsthauses als Leihgabe zur 
Verfügung gestellt hat, setzt in dieser Gruppe 
von Werken einen wichtigen neuen Akzent. 
Der Titel schon hat etwas Programmatisches, 
Bekenntnishaftes, wobei zugleich ein 
Unterton von Häuslichkeit mitklingt,’der 
sich beim Betrachten des Bildes verstärkt. 
Dargestellt ist ein nächtlicher Innenraum, 
eher Scheune als Zimmer, der nur vom Licht 
einer Stallaterne erhellt ist. Ein Junger Mann, 
dunkel gegen das Licht, hält sie vor seiner 
Brust. Ihr stärkstes Licht fällt auf ein Junges 
Mädchen, das vorgebeugt ein Bild auf einer 
Staffelei betrachtet. Bei näherem Zusehen 
antdeckt man im ungewissen Licht auf der 
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