Volltext: Jahresbericht 1975 (1975)

rechten Seite ein weiteres Gemälde. Der 
unvorbereitete Betrachter fragt sich zunächst, 
WO denn nun die Modelle des Künstlers 
zu sehen seien. Man fühlt sich fast vor ein 
Bilderrätsel gestellt. Einen Hinweis zur 
Lösung geben die im Bilde gemalten Bilder. 
Fasst man sie näher ins Auge, so erkennt man 
bekannte Werke Segantinis: Auf der Staffelei 
die Rückkehr zum Schafstall, daneben an 
die Wand gelehnt, den Pflüger (heute in der 
Staatsgalerie in München). Dabei wird 
einem klar, dass die beiden Bilder mit Bedacht 
gewählt sind; auf dem einen ist in morgend- 
lich heller Berglandschaft die das Bauern- 
leben am eindeutigsten charakterisierende 
Arbeit des Pflügens dargestellt, auf dem 
andern sind es die Tiere: Heimkehr der 
Schafe in der Abenddämmerung zu den 
erleuchteten Ställen. Damit ist ein Teil von 
dem gegeben, was zu dem programmatischen 
Titeln geführt hat: zu den Modellen gehören 
die Alpenlandschaft, die Bauern in ihrer 
Arbeit und die Tiere. Damit sind aber die 
Modelle noch nicht alle genannt; zu ihnen 
gehört auch — was sich aus dem Bild aller- 
dings nicht direkt ablesen lässt — das junge 
Mädchen, das im Laternenlicht, fast möchte 
man sagen verstohlen, die Bilder betrachtet. 
Es handelt sich dabei um eine junge 
Bäuerin aus Savognin, Barbara Uffer, 
genannt « Baba», die als schulentlassenes 
Mädchen in den Haushalt des Künstlers 
und seiner Familie eintrat, dem Maler auch 
die Malwerkzeuge nachtrug, vor allem aber 
immer wieder für seine Bilder als Modell 
diente. Sie hat ihm bis zuletzt treu gedient 
und war auch bei seinem plötzlichen Tod auf 
dem Schafberg bei ihm. Sie erscheint 
übrigens auch auf einem andern Bild im 
Kunsthaus als das strickende Mädchen. 
In einem etwas weiteren Sinn könnte man 
auch den Raum, in dem sich die Szene ab- 
spielt, als Modell bezeichnen, handelt es sich 
doch um die Scheune, die sich der Künstler 
in Savognin als Atelier eingerichtet hatte. 
Ohne Zweifel hat dieser vertraute Raum, 
der bei Nacht wohl keine künstliche Beleuch- 
tung besass, einen starken Anteil an der 
Entstehung des Bildes. Innenräume mit dem 
Spiel von Licht und Schatten erscheinen 
schon früh In Segantinis Werk, was einen 
nicht erstaunt, wenn man sein Sensorium für 
«Taten und Leiden des Lichts» in jeder Form 
bedenkt. Fast gleichzeitig mit unserem Bild 
entstanden weitere verwandte Werke, von 
denen die «zwei Mütter» wohl das bekann- 
teste ist. Hier ist in einem ebenfalls von einer 
Laterne beleuchteten Stallinnern eine junge 
Frau mit Ihrem kleinen Kind auf dem Schoss 
zusammengebracht mit einer Kuh, neben 
der ein Kälblein am Boden ruht. Die Laterne 
verbreitet ein sanftes, goldenes Licht, das 
Mensch und Tier mütterlich warm umfasst 
und zusammenbindet. Was beide Bilder 
gemeinsam haben, ist die Empfindlichkeit des 
Malers für die Farbnuancen, welche das 
Laternenlicht den an sich stumpfen Braun- 
und Gelbtönen verleiht, die Sensibilität aber 
auch für die geheime Farbigkeit in den 
Schattenpartien. 
Während aber in den beiden Müttern das 
Licht, dem Thema entsprechend, eher gleich- 
mässig mild und einhüllend ist, sind in 
«| miei modelli», die Ja gleichsam einen 
hastigen, etwas verstohlenen Besuch im 
Atelier wiedergeben, die Gegensätze von 
hellen und dunklen Partien stärker betont, so 
dass sich ein fast verwirrendes Vexierspiel 
von Licht und Schatten ergibt. Der Betrachter 
muss sich, wie die beiden Eindringlinge 
auf dem Bild, erst zurechtfinden. Volles Licht 
fällt auf das betrachtende Mädchen und 
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