Volltext: Jahresbericht 1975 (1975)

fehlte noch das, was ich für das Ganze 
fühlte; eine Struktur, eine gewisse Schärfe, 
die ich auch vor mir sah, etwas Skelett- 
artiges im Raum2.» Ende der zwanziger 
Jahre lernt Giacometti die Surrealisten 
kennen; er zählt seit 1930 zu ihrem Kreis. 
Die in dieser Zeit entstandenen Werke 
gehören zu den bedeutendsten Plastiken des 
Surrealismus. Die Surrealisten suchten aus 
dem Ungenügen an der nur optischen Wahr- 
nehmung und in Reaktion auf die vom 
Intellekt geprägte Welt nach erweiterten 
Erfahrungsmöglichkeiten, in denen sich das 
Bewusste und das Unbewusste durchdringen, 
in denen sich «die Grenzen zwischen der 
sogenannten Innenwelt und der Aussenwelt» 
verwischen (Max Ernst). Es wurden neue 
bildnerische Techniken eingesetzt, um das 
Überraschende, das Unbekannte und das 
Vieldeutige zu entdecken. « Es ging mir nicht 
mehr darum, eine Figur äusserlich ähnlich 
darzustellen, sondern darum, zu leben und 
nur das zu verwirklichen, was mich bewegte 
oder was ich wünschte». schrieb Giacometti2. 
Plastik als vertiefte Rille ausgeführt ist. Über 
diese Linie hinweg erfolgt der bedrohliche 
Stoss der auf einem Nagel aufgepflanzten 
keulenförmigen Figur gegen das Auge des 
Gegenspielers. In dessen Totenschädel und 
den skelettartigen Rippen klingt das Todes- 
motiv an. Die Bedrohung — Glacometti 
bezeichnet die Plastik 1947 in einem Brief 
an Pierre Matisse als « Pointe menacante 
l’ceil d’une t&te-cräne» — scheint nach 
festgelegten Spielregeln zu erfolgen: dies 
zeigt das klar abgegrenzte Spielfeld, in dem 
die beiden Akteure genau auf den gegen- 
iberliegenden Linien stehen. Eine ihre beider. 
Dositionen verbindende Diagonallinie 
scheint das Unausweichliche, das Vor- 
gezeichnete ihrer Begegnung anzudeuten, 
in der das schutzlos sich öffnende Skelett 
der aggressiven Spitzigkeit der Keule 
hoffnungslos unterlegen ist. Eine sehr 
ähnliche Konstellation hatte Giacometti in 
dem Werk « Homme et femme» von 1928/29 
geschaffen. Während jedoch dort die 
Aggression unverhüllt in ihrer sexuellen 
Symbolik hervortritt, geht das Geschehen in 
Die in diese Zeit zu datierende Feder- «Pointe a l’CEil» über die für den Surrealismus 
zeichnung Pointe a l’(Ei/ kann als Vor- kennzeichnende Geschlechtsproblematik 
zeichnung zu der gleichnamigen Plastik von hinaus. Das Werk stellt eine allgemeinere 
1931, die sich ebenfalls im Kunsthaus Zürich Bedrohung des Lebens dar: die Keulenspitze 
in der Giacometti-Stiftung befindet, zielt in das Lebenszentrum des Menschen, 
angesehen werden. Häufig sind die sur- in das Auge. Franz Meyer hat in seiner 
realistischen Zeichnungen jedoch auch im Giacometti-Monographie auf die Verbindung 
Anschluss an die Plastik entstanden. mit dem Film «Un chien andalou » aufmerk- 
«Pointe a l’CEil» gehört in die Reihe der sam gemacht, den Dali und Bufuel 1929 
Werke, in denen Giacometti eine stark gedreht haben. Dort wird in einer der 
aggressive Thematik entfaltet. Er hatte In eindrücklichsten Szenen ein Auge von einem 
dieser Zeit besonders engen Kontakt zu Rasiermesser durchschnitten. Reinhold Hohl 
Andre Masson, in dessen Bildern die berichtet, dass in jenem Herbst 1929 
Aggressivität das beherrschende Thema ist. Giacometti eine besonders enge Freund- 
Zwei Figuren stehen sich auf einem deutlich schaft mit dem surrealistischen Dichter 
abgegrenzten Feld gegenüber, getrennt durch Michel Leiris verband. Dieser war damals 
eine doppelt ausgezogene Linie, die In der voller drastischer Geschichten, und er 
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