HANS HARTUNG: TETRAPTYCHON
11963-—-R 18 —21, 1963
Geschenk von Dr. Willy und Marina Staehelin,
Feldmeilen
Lange bevor man von «Action painting» und
gestischer Malerei als neuen Begriffen inner-
halb der abstrakten Malerei sprach, hat Hans
Hartung diese Begriffe malerisch demonstriert.
Seit den ersten eigenständigen Versuchen in
den zwanziger Jahren —- nach Anfängen, die
aus dem Expressionismus herauswuchsen —
hat sich Hartung mit dem Gestus als male-
(ischem Zeichen auseinandergesetzt. Der
Gestus bestimmt bis heute Form und Inhalt
seiner Bilder. Seine Zeichensprache bewegte
sich ein Leben lang um die Linie. Er ging sie
ın breiten malerischen Pinselzügen an und
spann sie In haarfeinen Liniengespinsten wie
Graffiti über die Leinwand. Konsequent
verzichtete er auf Gegenständlichkeit und
begrenzte Form und Inhalt auf eine Lineatur,
die zugleich psychisch-grafisches Schrift-
zeichen und Ausdruck seiner eigenen Per-
sönlichkeit wird. Heute siedeln wir seine
Malerei im Kreise eines Pollock oder Mathieu
an, die nach dem Kriege der gestischen
Malerei den entscheidenden Ausdruck ver-
ltehen.
Hartung, 1904 in Leipzig geboren, seit 1935
in Frankreich und seit 1945 französischer
Staatsbürger, gehört zu den Hauptvertretern
der «Ecole de Paris» und vertritt zusammen
mit Mathieu und Soulage die europäische
Richtung des «Action painting». Er geht nicht
«in das Bild» wie Jackson Pollock und lässt
sich nicht von der Aktion des Malens hin-
reissen. Hartung bleibt in Distanz zum Bild,
macht Entwürfe für die Komposition und
sucht dem Zufall auszuweichen. Seine wie
mit schneller Geste gemalt erscheinenden
Linien sind langsam und mit Bedacht
Jezogen.
Das « Tetraptychon I» entstand 1963, im
Jahr, als das Kunsthaus Zürich Hans Hartung
eine Retrospektive widmete. Hartung hatte
vereits Jahrzehnte malerischer Erfahrung
hinter sich und die Möglichkeiten der
Lineatur sowohl als substantielles Zeichen
wie als bewegte dynamische Form erprobt.
Das vierteilige Bild ist charakteristisch für den
Stil der sechziger Jahre im (Euvre Hartungs:
zum ersten Male wird die Geste in einer Fülle
haarfeiner Linienzüge festgehalten, die dichte
graphische Bewegungen über die Leinwand
breiten. Auf den dunklen Hintergründen, die
sich in ein Blau- Türkis aufhellen, ist ein Netz
feiner Liniensysteme skizziert, die sich bis
zur Textur verdichten können. Die Linien sind
in die noch frische Farbe hineingekratzt und
fest mit dem Malgrund verbunden. Phos-
phoreszierendes Licht, das Hartung immer
wieder fasziniert hat, leuchtet geheimnisvoll
auf und gibt den vier Bildtafeln einen
Zauber, der Nachtstimmung als Nachtraum
erleben lässt.
Hartung hat die abstrakte Malerei als un-
mittelbarsten Ausdruck der Malerei ver-
standen, als direkte Niederschrift des
Künstlers, mit der er bildnerisch etwas «ohne
den Umweg über die Natur» ausdrücken
kann. Die Linte konnte ihm alle Gefühle
wiedergeben, «heftig, aufbrausend, ge-
sträubt, berstend oder ruhig, regelmässig,
gleichmässig. Sie korrespondiert mit unserem
Leben.» Auf unseren Bildtafeln korrespon-
dieren verschiedenste Linien miteinander:
gerade, gebogene, sich verwickelnde. Jede
hat ihren eigenen Zeitablauf und ihren
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