Volltext: Jahresbericht 1975 (1975)

BAISER, 25.10.1969, VON PABLO PICASSO 
Im Sommer 1970 war während des « Festival 
d’Avignon» eine ungewöhnliche Ausstellung 
im « Palais des Papes» zu sehen: 165 Bilder 
und 45 Zeichnungen von Pablo Picasso — 
alles Werke, die zwischen dem 5. Januar 
1969 und dem 1. Februar 1970 entstanden 
sind. Eine Jahresproduktion also, die ohne 
selektive Sichtung streng chronologisch 
dem Entstehungsdatum entsprechend aus- 
gearbeitet wurde, die phänomenale 
Gestaltungsfreude des damals 88jährigen 
Künstlers dokumentierend. Wäre nur die 
rein zahlenmässig unglaubliche Schaffens- 
kraft zu bewundern gewesen, die Ausstellung 
hätte ein Erfolg werden müssen. Wichtiger 
und in langfristiger Sicht entscheidend ist 
jedoch die Tatsache, dass Picasso sich 
bis In die letzten Schaffensjahre hinein eine 
Erfindungslust und ein stetes Erproben neuer 
Gestaltungsmöglichkeiten erhalten hat, 
so dass auch seine spätesten Werke immer 
wieder stilistische Eigenschaften aufweisen. 
die sie von früheren Bildern unterscheiden. 
Zugegeben, bei der ins Unermessliche 
angeschwollenen Produktion Picassos der 
sechziger Jahre, die ein Charakteristikum 
fortsetzt, das bereits in der unmittelbaren 
Nachkriegszeit begonnen hat, kann nicht 
jedes Bild, das der Hand des Meisters 
entstammt, ein Meisterwerk sein. Dass sich 
zuwellen auch schwächere Erzeugnisse 
namhaft machen lassen, tut der Tatsache 
keinen Abbruch, dass Picasso bis ins hohe 
und höchste Alter Werke geschaffen hat, die 
ihre Bedeutung innerhalb der Kunstgeschichte 
des dritten Viertels unseres Jahrhunderts 
behalten werden. 
Beinahe einziges Thema der Sommer- 
ausstellung von Avignon ist die Figur des 
Menschen, vor allem aber der menschliche 
Kopf. L’homme ä la pipe scheint den 
Künstler während der ganzen Zeitspanne 
beschäftigt zu haben, das B/d des Paares 
taucht immer wieder auf. Aus dem Motiv des 
Liebespaares entwickelt sich in der zweiten 
Oktoberhälfte das Thema des Kusses. Als 
Baiser bezeichnete Werke sind zwei Bilder 
am 24. Oktober entstanden, eines am 
25. Oktober (dasjenige des Kunsthauses), 
ein weiteres am folgenden Tage. Vom 
19. November bis Anfang Februar malte 
Picasso nochmals etwa 15 Coup/e oder 
Baiser genannte Werke, die das Motiv der 
beiden ineinander verzahnten Gesichter 
weiterentwickeln. Ein Thema somit, das den 
Maler offensichtlich über mehrere Monate 
hinweg fesselt und das ein wesentliches 
Merkmal seines späten Schaffens deutlich 
zum Ausdruck bringt: nämlich das — fast 
möchte man sagen getriebene — Umkreisen 
eines Gegenstandes in immer wieder neuen 
Variationen. Bereits sehr früh wird in 
Picassos Werk die Lust an der Variation, an 
der Verwandlung, an der Paraphrase 
spürbar; sie nimmt in den späteren Lebens- 
jahren nicht ab — im Gegenteil! Nicht nur 
die Serien des Rauchers oder des Kusses 
können hier erwähnt werden — in weit 
ausgeprägterem Masse noch gilt dies für 
den sich über Jahre erstreckenden Zyklus 
Maler und Modell. 
Das Zweifigurenbild, dessen Präsenz im 
Lebenswerk des Künstlers stets festzustellen 
war, hat in den sechziger Jahren eine 
deutliche Akzentuilerung in Richtung 
erotischer Komponenten erfahren. Diese 
Wendung nur als Ausdruck einer Kompen- 
sierung der entschwindenden Lebenskräfte 
des Künstlers deuten zu wollen, wäre zu 
einfach, zu einseltig. In einem viel um- 
1921
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.