Full text: Jahresbericht 1976 (1976)

ichen, die mit klassischem Ebenmass und Aus- 
jJewogenheit nichts mehr zu tun hat. 
erst In den vierziger Jahren hat Turner unser Land 
wieder besucht. Offenbar beschäftigte Ihn das 
zrlebnis vom Jahre 1802 über Jahrzehnte hinweg, 
yobei andere Landschaftserfahrungen, ins- 
esondere Italien, hinzugekommen sind. Von 
1841 bis 1844 jedoch suchte er die Orte des früheren 
-indrucks alljährlich wieder auf, wobei freilich die 
Motivwahl für seine Skizzen eine gänzlich andere 
st. Andrew Wilton! spricht davon, dass es ihm nun 
ım die grössere Offenheit der Kompositionen und 
Jım «so viel wie möglich Luft und Raum» ging. 
Nicht mehr die bedrohende Alpenwelt ist das 
Hauptthema, es überwiegen nun die Ansichten von 
Städten und Seen. Diese veränderte Haltung kommt 
m Aquarell «A F&te Day in Zurich: Early Morning» 
n grosser Reinheit zum Ausdruck. Die weite 
Z7ürichsee-Landschaft ist In ein helles Gegenlicht 
jetaucht; als Blickpunkt diente dem Künstler höchst 
wahrscheinlich der Ausblick aus den Häusern zur 
Schipfe. Die topographischen Verhältnisse sind, wie 
38 bei Turner häufig der Fall ist, so gestaltet, dass die 
‚äumlichen Gegebenheiten zwar deutlich erkennbar 
sind, jedoch einer kompositorischen Anlage unter- 
vorfen werden, die, verglichen mit der Wirklichkeit, 
manches Detail mehr oder weniger stark zurecht- 
‚rückt. Den Mittelpunkt der Komposition bildet die 
m Gegenlicht hell aufleuchtende Limmat, die beiden 
Jferpartien werden gleichgewichtig gegeneinander 
3ausbalanciert. Genau beobachtet ist die Münster- 
orücke mit ihren vier breiten Jochen und dem 
schmaleren Bogen auf der Fraumünsterseite. Das 
3Zrossmünster zeigt fälschlicherweise zwischen den 
Türmen einen Giebel mit Rosette; die Fassade wird 
n Wirklichkeit durch ein Pultdach abgeschlossen. 
Deutlich erkennbar sind die beiden Türme des 
=raumünsters und der St. Peterskirche. Letzterer 
scheint überlängt und in seiner Formgebung dem 
Fraumünster angeglichen. Am rechten Bildrand 
sefindet sich der Absturz des Lindenhofes aegen 
die Limmat hin. Der Vordergrund ist ausgefüllt mit 
Figuren, die die schräggestellte Rathausbrücke 
überreich bevölkern. Ruskin? spricht davon, die 
Menschenmenge sei «eifrig mit Wasservergnügen 
ainer unverständlichen Art beschäftigt». Ob das 
Sechseläuten dargestellt Ist, wie schon vermutet 
wurde, muss dahingestellt bleiben. Das vom Kunst- 
haus erworbene Bild ist anhand einer Skizze ent- 
standen, die sich im British Museum befindet®. Die 
kleinen Unstimmigkeiten sind sicher die Folge 
davon, dass unser Bild nicht an Ort und Stelle ent- 
standen ist. Dieser Entstehungsprozess entspricht 
Turners allgemeinen Praxis, wonach er an Ort und 
Stelle erste Eindrücke notiert hat, die er später zu 
ausgearbeiteten Werken verwendet hat, die für den 
Verkauf bestimmt waren. Die Skizzenblätter behielt 
er für sich, sie kamen später alle zusammen mit 
seinem grossen Legat an den englischen Staat 
und werden heute im Print-Room des British 
Museum aufbewahrt. Dies erklärt die Tatsache, 
dass heute im Handel nur sogenannte «finished 
water-colours» anzutreffen sind. Im ganzen hat 
Turner vier Zürcher Aquarelle geschaffen: das 
vom Kunsthaus erworbene und die dazugehörige 
Skizze, eine weitere Skizze* und das dazugehörige 
vollendete Aquarell, die sich im British Museum 
befinden®, Es ist hier der Ort, darauf hinzuweisen, 
dass Turner die Aquarellmalerei als gleichgewichtig 
neben der Ölmalerei betrachtete, wozu nicht zuletzt 
die zahlreichen Schweizer Aquarelle gehören, die 
sainen Höhepunkt in seiner künstlerischen Ent- 
wicklung darstellen. Wobei mit dem Begriff 
Aquarell die Technik insbesondere der ausgeführten 
Blätter nur unzureichend charakterisiert wird. Unser 
Zürcher Bild zeigt die für Turner charakteristische 
Mischtechnik, deren besondere Eigenart es Ist, dass 
nicht nur die Vorzeichnungen in Tusche und 
Bleistift sichtbar geblieben sind, sondern dass 
auch ganze Partien von einem gefärbten Firnis 
überdeckt werden. Diesen Firnis benutzte Turner, 
um Schattenpartien zu verdunkeln, wie dies 
deutlich wird bei den Häusern beidseits der Limmat. 
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