Volltext: Jahresbericht 1976 (1976)

JOAN MIRO: «TETE GEORGES AURIC», 1929 
ANDRE MASSON: «COQUILLAGE», 1928 
Die Sammlung des Kunsthauses wurde durch 
zwei Werke bereichert, die sich nicht nur in der 
Entstehungszeit nahekommen, sondern sich auch 
von Ihrer Konzeption her besonders glücklich 
ergänzen. Beide gehören dem Iyrischen Surrealismus 
an, und beide sind Materialbilder. Joan Mirö gab 
seinem imaginären Porträt Georges Aurics einen 
Bildgrund aus Teerpappe, und Andre Masson 
siedelte seine «Coquillage» auf Sand an. Beide 
Bilder nehmen Sonderstellungen im Werk ihres 
Autors ein und sind zugleich doch auch sympto- 
matisch für einen dem Individuellen übergeordneten 
Zeitstil. 
Bei Joan Miro fällt das Porträt von Georges Auric 
in einen Zeitpunkt, da der Künstler sich in einer 
axistenziellen Krise befindet. Er hat den Glauben an 
die Malerei verloren — nicht nur für sich selbst, 
sondern überhaupt. Was die Dadaisten ein Jahr- 
zent vorher geprobt hatten, wird für Mirö in diesem 
Jahr 1929 noch einmal zum grundlegenden ; 
Zweifel an der Kunst. Er greift zur Collage und zum 
Materialbild, um sich von der Peinture zu befreien. 
Er will bewusst Anti-Malerei machen. Er vertraut 
weder der Leinwand noch dem Pinsel und am 
wenigsten der Farbe. Die Bilder dieses Jahres sind 
spröde, vermeiden Farbigkeit, aber faszinieren durch 
die Zusammenstellung der Materialien. Mirö 
arbeitet mit Holzstücken, Schnur, Papier. Er probiert 
alle möglichen Materialien aus, um der Ge- 
schmeidigkeit der hingemalten Farbe zu entgehen. 
Die Bilder aus diesem Jahr sind vorwiegend 
Tableaux objets — zu denen wir — Kinder der 
sechziger Jahre und der Materialbilder der Pop-Art — 
verständlicherweise heute eine spezielle Zuneigung 
haben. Das Porträt Auric reflektiert diese Haltung 
Mirös eindeutig. Es hat keine Farbigkeit. Der aus- 
gesparte Kopf auf unbehandeltem Papiergrund hebt 
sich vom braunschwarzen Teergrund ab. Mirö macht 
keine Konzessionen an den gefälligen Geschmack. 
Selbst dem Verlauf der Linien misstraut er. Keine 
Geschmeidigkeit einer vibrierenden, lebhaft be- 
wegten Linie, sondern beinahe starre, in jedem Falle 
aber winklige Striche. Das Profil zeichnet sich durch 
spitze, kantige Ecken aus. Kein «schmeichelndes» 
Porträt also — und letztlich ja auch kein Porträt, 
sondern die Vision eines Malers über einen Kopf, 
den er sich einbildet: embryohaft, in äusserster 
Vereinfachung, also nur imaginäres Porträt, kein 
Bildnis und schon gar kein Abbild. Dieser Kopf 
könnte alle Namen haben. Er meint keine 
‚Nndividuelle Persönlichkeit mehr. Oder doch? 
Mirö gab ihm die genaue Bezeichnung. Also war 
doch in der imaginären Sicht auch der Mensch 
gemeint, den er zu porträtieren gedachte. 1927 
hatte das « Portrait» den Typus der imaginären 
Bildnisse Mirös vorbereitet. Der Kopf wird Metapher 
für eine bestimmte Auffassung. Dass Mirö es am 
Thema des « Bildnisses» demonstriert, jenem Thema, 
das gerade in den zwanziger Jahren so bewusst 
sachlich, abbildhaft, «ähnlich» behandelt wurde, 
zeigt seine Neigung zum Transponieren, zum 
Verfremden eminent. Im Jahr 1929 — und wir sagen 
es noch einmal: das Porträt Georges Auric ist ein 
authentisches Beispiel dafür — schliesst Mirö keine 
Kompromisse. Der Lyrismus, dem er noch kurz 
vorher huldigte, ist verflogen. Die Traumwelt mit 
schönen Dingen und malerischen Hintergründen, 
die sich in Farben auflösten, interessiert ihn nicht 
mehr. Es ist nicht ohne Reiz, den Kopf Aurics zu 
vergleichen mit dem Kopf des Rauchers aus dem 
Jahr 1925: beide Köpfe im Profil auf eine streng 
vereinfachende Form reduziert. 1925 ist alles 
spielerisch, anmutig, leicht in Hellblau, Weiss, Gelb 
getaucht, und zinnoberrote Punkte setzen heitere 
Akzente. 1929 ist alles monoton, farblos, ohne 
Beiwerk. Nüchtern. Aber in der Schlichtheit, der 
überaus sparsamen und zugleich grosszügigen 
Verwendung der Formen überzeugend. Es ist ein 
wirklich spezieller Mirö, dem wir im Porträt Auric 
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