JOAN MIRO: «TETE GEORGES AURIC», 1929
ANDRE MASSON: «COQUILLAGE», 1928
Die Sammlung des Kunsthauses wurde durch
zwei Werke bereichert, die sich nicht nur in der
Entstehungszeit nahekommen, sondern sich auch
von Ihrer Konzeption her besonders glücklich
ergänzen. Beide gehören dem Iyrischen Surrealismus
an, und beide sind Materialbilder. Joan Mirö gab
seinem imaginären Porträt Georges Aurics einen
Bildgrund aus Teerpappe, und Andre Masson
siedelte seine «Coquillage» auf Sand an. Beide
Bilder nehmen Sonderstellungen im Werk ihres
Autors ein und sind zugleich doch auch sympto-
matisch für einen dem Individuellen übergeordneten
Zeitstil.
Bei Joan Miro fällt das Porträt von Georges Auric
in einen Zeitpunkt, da der Künstler sich in einer
axistenziellen Krise befindet. Er hat den Glauben an
die Malerei verloren — nicht nur für sich selbst,
sondern überhaupt. Was die Dadaisten ein Jahr-
zent vorher geprobt hatten, wird für Mirö in diesem
Jahr 1929 noch einmal zum grundlegenden ;
Zweifel an der Kunst. Er greift zur Collage und zum
Materialbild, um sich von der Peinture zu befreien.
Er will bewusst Anti-Malerei machen. Er vertraut
weder der Leinwand noch dem Pinsel und am
wenigsten der Farbe. Die Bilder dieses Jahres sind
spröde, vermeiden Farbigkeit, aber faszinieren durch
die Zusammenstellung der Materialien. Mirö
arbeitet mit Holzstücken, Schnur, Papier. Er probiert
alle möglichen Materialien aus, um der Ge-
schmeidigkeit der hingemalten Farbe zu entgehen.
Die Bilder aus diesem Jahr sind vorwiegend
Tableaux objets — zu denen wir — Kinder der
sechziger Jahre und der Materialbilder der Pop-Art —
verständlicherweise heute eine spezielle Zuneigung
haben. Das Porträt Auric reflektiert diese Haltung
Mirös eindeutig. Es hat keine Farbigkeit. Der aus-
gesparte Kopf auf unbehandeltem Papiergrund hebt
sich vom braunschwarzen Teergrund ab. Mirö macht
keine Konzessionen an den gefälligen Geschmack.
Selbst dem Verlauf der Linien misstraut er. Keine
Geschmeidigkeit einer vibrierenden, lebhaft be-
wegten Linie, sondern beinahe starre, in jedem Falle
aber winklige Striche. Das Profil zeichnet sich durch
spitze, kantige Ecken aus. Kein «schmeichelndes»
Porträt also — und letztlich ja auch kein Porträt,
sondern die Vision eines Malers über einen Kopf,
den er sich einbildet: embryohaft, in äusserster
Vereinfachung, also nur imaginäres Porträt, kein
Bildnis und schon gar kein Abbild. Dieser Kopf
könnte alle Namen haben. Er meint keine
‚Nndividuelle Persönlichkeit mehr. Oder doch?
Mirö gab ihm die genaue Bezeichnung. Also war
doch in der imaginären Sicht auch der Mensch
gemeint, den er zu porträtieren gedachte. 1927
hatte das « Portrait» den Typus der imaginären
Bildnisse Mirös vorbereitet. Der Kopf wird Metapher
für eine bestimmte Auffassung. Dass Mirö es am
Thema des « Bildnisses» demonstriert, jenem Thema,
das gerade in den zwanziger Jahren so bewusst
sachlich, abbildhaft, «ähnlich» behandelt wurde,
zeigt seine Neigung zum Transponieren, zum
Verfremden eminent. Im Jahr 1929 — und wir sagen
es noch einmal: das Porträt Georges Auric ist ein
authentisches Beispiel dafür — schliesst Mirö keine
Kompromisse. Der Lyrismus, dem er noch kurz
vorher huldigte, ist verflogen. Die Traumwelt mit
schönen Dingen und malerischen Hintergründen,
die sich in Farben auflösten, interessiert ihn nicht
mehr. Es ist nicht ohne Reiz, den Kopf Aurics zu
vergleichen mit dem Kopf des Rauchers aus dem
Jahr 1925: beide Köpfe im Profil auf eine streng
vereinfachende Form reduziert. 1925 ist alles
spielerisch, anmutig, leicht in Hellblau, Weiss, Gelb
getaucht, und zinnoberrote Punkte setzen heitere
Akzente. 1929 ist alles monoton, farblos, ohne
Beiwerk. Nüchtern. Aber in der Schlichtheit, der
überaus sparsamen und zugleich grosszügigen
Verwendung der Formen überzeugend. Es ist ein
wirklich spezieller Mirö, dem wir im Porträt Auric
101