Full text: Jahresbericht 1976 (1976)

geht das Thema auf ein Jugenderlebnis zurück. 
Während seiner Ausbildungszeit 1921—24 erlebte 
ar in Rom die Zusammenstösse, Schiessereien und 
Strassenschlachten der Nachkriegszeit und be- 
richtet über den Einmarsch der Faschisten unter 
Mussolini: «Einige wenige der Männer des frühen 
Faschismus, gefolgt von unübersehbaren Marsch- 
xolonnen schwerbewaffneter Männer. Die thea- 
tralisch aufgezogene Machtübernahme der 
-aschisten, die dann in der Folge die Geschicke 
'taliens lenken sollten, hatte vorerst etwas Geister- 
haftes2.» Franz Fischer ist nicht der einzige, der 
sich auf Grund früher Erfahrungen mit dem Thema 
Masse auseinandersetzt. Man denke nur etwa an 
zlias Canettis Buch «Masse und Macht». Franz 
5ischer sieht in der Masse ein zentrales Thema 
unserer Zeit. Er bewahrt zum Beispiel Zeitungs- 
ausschnitte mit Photographien von Menschen- 
massen auf. Angesichts einer Photo aus China 
spricht er von der Faszination, die von dieser An- 
sammlung von Massen und ihrer Auflockerung aus- 
geht und die ihn anregt. Ihn fesselt vor allem die 
Masse in Bewegung, das «fugitif», wie er es nennt, 
der Augenblick, in dem alle auf ein Wort — sei es 
das eines Diktators oder einer anderen furcht- 
erregenden Macht — in eine Richtung fliehen oder 
stürmen. Für die Gestaltung dieses Themas hat er 
im Relief das ihm adäquate Mittel der Bildhauerei 
gefunden. Er verwendet nicht das strenge Relief, 
bei dem die Figuren vor einer neutralen, glatten 
Fläche stehen, sondern nähert sich dem male- 
rischen Relief, indem er den Grund mit einbezieht 
und die Figuren mit unterschiedlichen Reliefhöhen 
mehr oder weniger in ihn eingehen lässt. Die Gattung 
des malerischen Reliefs wurde im 15. Jahrhundert 
von Donatello und Ghiberti ausgebildet. Ein 
raffinierter Illusionismus unter Andeutung von 
perspektivischen Landschafts- oder Architektur- 
hintergründen verband das Relief mit der Malerei. 
Franz Fischer verzichtet im Gegensatz dazu auf 
jede Raumillusion und setzt seine Figuren in 
lockerer Streuung auf die freie Fläche. Dem Ver- 
zicht auf Raumillusion entspricht der Verzicht auf 
Körperillusion: die einzelnen Figuren sind nicht 
mehr im realistischen Sinn mit Wölbungen und 
Vertiefungen modelliert, sondern besitzen eine vom 
Naturvorbild unabhängige, geometrisierende 
Binnenstruktur. Die facettenhafte Aufsplitterung der 
Figur bewirkt, dass die Übergänge zwischen Licht 
ınd Schatten nicht mehr kontinuierlich erfolgen, 
sondern dass sich an den Kanten Hell und Dunkel 
schroff gegenüberstehen. Der Hell-Dunkel- Kontrast 
erzeugt eine fast abstrakte Struktur über die gesamte 
Fläche hinweg und verstärkt auf diese Weise den 
Eindruck der erregten Bewegung der Masse. 
Unterstützt wird dieser Eindruck durch die Aus- 
bildung der Figuren als Ausdrucksgestalten, die 
sich hauptsächlich in der Gebärde realisieren®. 
Ganz ähnliche Gestaltungsprinzipien lassen sich in 
unserer Zeichnung « Unruhe I» nachweisen. Auch 
hier sind die weissen Flächen nicht im Sinne einer 
traditionellen Körpermodellierung mit kontinuier- 
'ichen Übergängen von Hell zu Dunkel eingesetzt. 
Ihre scharf begrenzten, geometrisierenden Flächen 
entsprechen den lichtauffangenden Facetten im 
Relief, während die unbemalten dunklen Flächen 
das Pendant zu den dem Licht abgewandten, also 
den Schattenseiten im Relief darstellen. Die weisser 
Flecken ergeben insgesamt ein abstraktes Muster, 
das die Menschengruppe strukturiert und In seiner 
Hell-Dunkel-Rhythmik die Dynamik der Szene 
Junterstützt. Auch die sprunghaften Grössen- 
unterschiede zwischen den einzelnen Figuren der 
Gruppe tragen zu dem «unruhigen» Charakter des 
Geschehens bel. 
Ebenso wie im Relief spielt die leere Fläche, auf 
der sich die Figuren bewegen, eine wichtige Rolle 
Obwohl diese Fläche keine Andeutungen von 
Landschafts- oder Architekturhintergründen ent- 
hält, suggeriert sie dennoch einen Raum. Die 
Figuren greifen mit ihrer expressiven Bewegtheit 
und ihren vielfältig ausladenden Umrissen in die 
Fläche aus und aktivieren diese zu einer eigenen 
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