Full text: Jahresbericht 1976 (1976)

bekannt ist für seinen Ausspruch: « Blake is damned 
good to steal from», stammten doch die meisten 
Motive, die beiden gemeinsam sind, gewöhnlich 
von Füssli*. «Das Schweigen» kann als «Idea 
made intuitive» .— ein «sentiment personified» 
gesehen werden, wie der Künstler selbst viele 
seiner Werke beschrieb®. Es ist eine höchst per- 
sönliche künstlerische Vorstellung, die auch weite 
symbolische Verästelungen hat, welche ihn mit den 
malerischen Traditionen der Vergangenheit wie 
der Zukunft verbinden. 
Um die Zeit der Ausführung von «Das Schweigen» 
war das Leben des Künstlers geschäftig und er- 
lebnisreich. Im Juni 1799 wurde Füssli zum Professor 
of Painting an der Royal Academy in London 
gewählt. Im gleichen Jahr wurde in Pall Mall die 
erste Ausstellung seiner « Milton-Galerie» in 
Christies Räumen eröffnet. Dieses monumentale 
Unternehmen Füsslis zeitigte bei den Kunstkritikern 
Erfolg, fand aber wenig Gunst beim Publikum. Erst 
nach der zweiten Eröffnung am 21. März 1800 mit 
sieben zusätzlichen Gemälden wurde es allgemein 
begrüsst. Im Jahr 1801 hielt Füssli an der Royal 
Academy eine Folge von drei Vorlesungen mit den 
Themen: «Antike Kunst», «Kunst der Neuzeit» und 
«Erfindung». Diese wurden im gleichen Jahr durch 
die Londoner Firma Henry Colburn und Richard 
Bentley veröffentlicht. Das Titelblatt der Lectures 
an Painting zeigen einen ovalen Stich von J. Burnett 
nach Füsslis Gemälde «Das Schweigen» (Abb. 3). 
Die Tatsache, dass dieses Bild hier erscheint, gibt 
uns eine Idee von der Vorliebe, die der Maler dafür 
gehabt haben muss. 
Ebenfalls zu dieser Zeit erfuhr Füssli eine merk- 
würdige Beurteilung durch Goethe. Die Tagebuch- 
eintragung des Dichters vom 2. Mai 1800 lautet: 
«Bei Füssli sind Poesie und Malerei immer im 
Streit... man schätzt ihn als Dichter, und als 
bildender Künstler macht er den Zuschauer immer 
ungeduldig®.» Goethes Vorstellung, dass Poesie 
und Malerei bei Füssli auf Kriegsfuss stehen, mutet 
uns seltsam an, da wir zur Meinung neigen, dass 
Füssli in seiner visuellen Ästhetik — ut pictura 
pOoesis — die beiden Künste harmonisch verbunden 
hat. Mit dem Gemälde «Das Schweigen» hat der 
Künstler fürwahr ein vollkommenes Beispiel von 
dem geschaffen, was Gert Schiff als ein Bild von 
«poetic timelessness» beschrieben hat’. Eine Frau 
sitzt auf dem Boden in streng frontaler Haltung 
mit nach vorn herunterhängendem Kopf, so dass 
ein langer Haarfluss sanft gewellt über ihr Gesicht 
und ihren Vorderkörper entlang zu Boden fällt. Sie 
hat die Beine gekreuzt und hält ihre Knie aufwärts 
gerichtet. Unter ihrem langen. Kleid schaut ein 
nackter Fuss hervor. Auch ihre Arme fallen hinunter 
und sind gekreuzt, so dass sie eine Wiege für ihr 
üppiges Haupthaar bilden. Eine ausgesuchte Ein- 
fachheit liegt über der ganzen Szene, doch das 
Kreuzen von Armen und Beinen verleiht der Figur 
eine anatomische Verflochtenheit®. Wir sehen keine 
Gesichtszüge und von ihrem Körper tatsächlich so 
wenig, dass ihre Identität völlig anonym bleiben 
muss. Verharrt sie in Ruhe? Oder ist sie in tiefe 
Kontemplation versunken? Eine vollkommene Ruhe 
umgibt diese Gestalt, wie sie auftaucht — in Silber- 
tönen — aus einem dunklen, schossähnlichen Hof 
von Schwärze, in dem sie gleichsam herumzutreiben 
scheint. Die äusseren Ecken des Gemäldes sind 
leicht heller, und rechts oben auf der Leinwand 
sind die griechischen Buchstaben für «Schweigen» 
zu sehen. 
Füssli verwendet dieses Bild völlig anders als 
Blake, der mit seiner ursprünglichen Konzeption 
Edward Youngs Night Thoughtis illustrierte®. Blakes 
Zeichnung (Abb. 4) wurde zwischen 1795 und 
1797 ausgeführt und erschien in einer Gedicht- 
ausgabe, zu der Füssli selbst die Einleitung 
geschrieben hatte!9. Aus dem Zusammenhang, 
aus dem Blake die Figur gestaltete, ergibt sich ein 
eher dekoratives Bild, das in Verbindung mit anderen 
gebraucht wird, um einen zentralen Raum von 
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