bekannt ist für seinen Ausspruch: « Blake is damned
good to steal from», stammten doch die meisten
Motive, die beiden gemeinsam sind, gewöhnlich
von Füssli*. «Das Schweigen» kann als «Idea
made intuitive» .— ein «sentiment personified»
gesehen werden, wie der Künstler selbst viele
seiner Werke beschrieb®. Es ist eine höchst per-
sönliche künstlerische Vorstellung, die auch weite
symbolische Verästelungen hat, welche ihn mit den
malerischen Traditionen der Vergangenheit wie
der Zukunft verbinden.
Um die Zeit der Ausführung von «Das Schweigen»
war das Leben des Künstlers geschäftig und er-
lebnisreich. Im Juni 1799 wurde Füssli zum Professor
of Painting an der Royal Academy in London
gewählt. Im gleichen Jahr wurde in Pall Mall die
erste Ausstellung seiner « Milton-Galerie» in
Christies Räumen eröffnet. Dieses monumentale
Unternehmen Füsslis zeitigte bei den Kunstkritikern
Erfolg, fand aber wenig Gunst beim Publikum. Erst
nach der zweiten Eröffnung am 21. März 1800 mit
sieben zusätzlichen Gemälden wurde es allgemein
begrüsst. Im Jahr 1801 hielt Füssli an der Royal
Academy eine Folge von drei Vorlesungen mit den
Themen: «Antike Kunst», «Kunst der Neuzeit» und
«Erfindung». Diese wurden im gleichen Jahr durch
die Londoner Firma Henry Colburn und Richard
Bentley veröffentlicht. Das Titelblatt der Lectures
an Painting zeigen einen ovalen Stich von J. Burnett
nach Füsslis Gemälde «Das Schweigen» (Abb. 3).
Die Tatsache, dass dieses Bild hier erscheint, gibt
uns eine Idee von der Vorliebe, die der Maler dafür
gehabt haben muss.
Ebenfalls zu dieser Zeit erfuhr Füssli eine merk-
würdige Beurteilung durch Goethe. Die Tagebuch-
eintragung des Dichters vom 2. Mai 1800 lautet:
«Bei Füssli sind Poesie und Malerei immer im
Streit... man schätzt ihn als Dichter, und als
bildender Künstler macht er den Zuschauer immer
ungeduldig®.» Goethes Vorstellung, dass Poesie
und Malerei bei Füssli auf Kriegsfuss stehen, mutet
uns seltsam an, da wir zur Meinung neigen, dass
Füssli in seiner visuellen Ästhetik — ut pictura
pOoesis — die beiden Künste harmonisch verbunden
hat. Mit dem Gemälde «Das Schweigen» hat der
Künstler fürwahr ein vollkommenes Beispiel von
dem geschaffen, was Gert Schiff als ein Bild von
«poetic timelessness» beschrieben hat’. Eine Frau
sitzt auf dem Boden in streng frontaler Haltung
mit nach vorn herunterhängendem Kopf, so dass
ein langer Haarfluss sanft gewellt über ihr Gesicht
und ihren Vorderkörper entlang zu Boden fällt. Sie
hat die Beine gekreuzt und hält ihre Knie aufwärts
gerichtet. Unter ihrem langen. Kleid schaut ein
nackter Fuss hervor. Auch ihre Arme fallen hinunter
und sind gekreuzt, so dass sie eine Wiege für ihr
üppiges Haupthaar bilden. Eine ausgesuchte Ein-
fachheit liegt über der ganzen Szene, doch das
Kreuzen von Armen und Beinen verleiht der Figur
eine anatomische Verflochtenheit®. Wir sehen keine
Gesichtszüge und von ihrem Körper tatsächlich so
wenig, dass ihre Identität völlig anonym bleiben
muss. Verharrt sie in Ruhe? Oder ist sie in tiefe
Kontemplation versunken? Eine vollkommene Ruhe
umgibt diese Gestalt, wie sie auftaucht — in Silber-
tönen — aus einem dunklen, schossähnlichen Hof
von Schwärze, in dem sie gleichsam herumzutreiben
scheint. Die äusseren Ecken des Gemäldes sind
leicht heller, und rechts oben auf der Leinwand
sind die griechischen Buchstaben für «Schweigen»
zu sehen.
Füssli verwendet dieses Bild völlig anders als
Blake, der mit seiner ursprünglichen Konzeption
Edward Youngs Night Thoughtis illustrierte®. Blakes
Zeichnung (Abb. 4) wurde zwischen 1795 und
1797 ausgeführt und erschien in einer Gedicht-
ausgabe, zu der Füssli selbst die Einleitung
geschrieben hatte!9. Aus dem Zusammenhang,
aus dem Blake die Figur gestaltete, ergibt sich ein
eher dekoratives Bild, das in Verbindung mit anderen
gebraucht wird, um einen zentralen Raum von
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