Gemälde mit der vergangenen Tradition verbunden,
indem er das weibliche Bild bewahrt, währenddem
er zukünftige Darstellungen des Themas voraus-
nimmt. Füssli schafft seine Figur «Das Schweigen»
und kommt damit in den Strom kollektiven Bewusst-
seins des modernen Bildgestaltens, wodurch er
einen Teil des Repertoires jener proteischen Formen
und Begriffe bildet, die Künstler und Schriftsteller
bis ins neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert
unablässig anzogen. 1890 malte Fernand Khnopff
seine Version von «Schweigen» — eine allein
stehende weibliche Figur!®%. Ebenfalls im gleichen
Jahr entstand Max Klingers « Blaue Stunde», die
drei Frauen zeigt und vom Künstler selbst als
«three different silent contemplations »?° beschrieben
wurde. Odilon Redon malte in seinem Bild «Das
Schweigen» aus dem Jahr 1911 eine Figur in einer
mehr oder weniger fötusähnlichen Stellung. Sie
schaut aus einem dem Mutterleib gleichenden Rund
heraus; ihre Finger berühren die Lippen?!, In der
Poesie schliesst Allen Ginsbergs «Song», eine
Hymne an die Liebe und Einsamkeit, mit den Worten:
«| wanted, | always wanted, I always wanted, to
return to the body where | was born?22.» In diesem
Zusammenhang gesehen, schlägt Füssli eine derart
überraschend moderne Richtung ein, dass sich Blake
zur Bemerkung veranlasst sah: «This country must
advance two centuries in civilization before it can
appreciate him23.»
Füssli betrachtete William Cowper (1731-1800) als
den grössten Dichter seiner Zeit. Füssli, der gegen
die Mystik und Esoterik in der Poesie, in der Art wie
Blake sie pflegte, Einwendungen machte?*, fand
bei Cowper eine Nüchternheit, Offenheit und
Menschlichkeit, die ihm entsprachen (während er
gleichzeitig dasjenige verwarf, was er in Cowpers
Werk für frömmelnd und moralisierend hielt). Wir
müssten jedoch darüber staunen, wenn es nur des
Dichters Schriften gewesen sein sollten, die Füssli
angezogen haben. Cowper kam spät zur Literatur.
Er trat mit 48 Jahren zum erstenmal als Autor in
Erscheinung?25, Sein ganzes Leben hindurch wurde
er während längerer Zeitabschnitte von Geistes-
krankheit gequält, wobei er mehrere Male ver-
suchte, Selbstmord zu begehen. Sogar in seinen
lichten Zeiten war in seiner Persönlichkeit ein
unterschwelliger Zug von Verzweiflung und Angst,
die sich auch in seiner Poesie reflektieren und die
nach Schiff eine grosse Anziehungskraft auf Füssli
ausübten2®, Überdies hatte jeder der beiden Männer
seine Mutter früh verloren, was in ihnen ein Gefühl
von Isolation und gefühlsmässiger Desorientierung
hervorrief, die später bei beiden durch wiederholte
unerwiderte Liebe verschlimmert wurden. Füssli und
Cowper waren jedoch nicht nur «kindred spirits»,
sondern hatten auch zusammen gearbeitet. Cowper
begann 1784 seine Übersetzung von Homers ///as
und Odyssee, welche der belesene Füssli ausführlich
durchsah und verbesserte?7, Einen anderen wich-
tigen Hinweis auf ihre gegenseitige Beziehung
ergibt die Tatsache, dass die Gemälde, die letztlich
Füsslis « Milton-Galerie» ausmachten, ursprünglich
als Vorlagen für Stiche vorgesehen waren, die eine
Milton-Ausgabe illustrieren sollten, mit deren
Edition Cowper beauftragt worden war. Dieses
Vorhaben wurde vom Dichter nie zu Ende geführt.
Füssli machte acht Illustrationen zu Werken von
Cowper?8, dem einzigen Dichter zu seinen Lebzeiten,
für den er sich soviel Mühe gab. Jene sind insofern
bemerkenswert, als sie die einzigen Beispiele im
(Euvre des Malers darstellen, in denen er «zeit-
genössisches Leben frei von jener charakteristischen
Verquickung mit erotisierten und Märchenmotiven»
darstellt?9. Vier der Illustrationen sind von Cowpers
bekanntestem Werk 7he Task39, Sie umfassen zu-
sammen die mannigfaltigen Seiten dieses weit-
schweifigen pastoral-philosophischen Gedichts —
von der rasenden Verzweiflung der «Mad Kate»
(Die wahnsinnige Kate, Schiff 1234) bis zur sanften
Lyrik in der «Vision des Dichters» (Schiff 1229).
«<Das Ankleidezimmer> (Schiff 1231) ist ein
Beispiel für Füsslis Umkehrung der ursprünglichen
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