Volltext: Jahresbericht 1976 (1976)

Gemälde mit der vergangenen Tradition verbunden, 
indem er das weibliche Bild bewahrt, währenddem 
er zukünftige Darstellungen des Themas voraus- 
nimmt. Füssli schafft seine Figur «Das Schweigen» 
und kommt damit in den Strom kollektiven Bewusst- 
seins des modernen Bildgestaltens, wodurch er 
einen Teil des Repertoires jener proteischen Formen 
und Begriffe bildet, die Künstler und Schriftsteller 
bis ins neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert 
unablässig anzogen. 1890 malte Fernand Khnopff 
seine Version von «Schweigen» — eine allein 
stehende weibliche Figur!®%. Ebenfalls im gleichen 
Jahr entstand Max Klingers « Blaue Stunde», die 
drei Frauen zeigt und vom Künstler selbst als 
«three different silent contemplations »?° beschrieben 
wurde. Odilon Redon malte in seinem Bild «Das 
Schweigen» aus dem Jahr 1911 eine Figur in einer 
mehr oder weniger fötusähnlichen Stellung. Sie 
schaut aus einem dem Mutterleib gleichenden Rund 
heraus; ihre Finger berühren die Lippen?!, In der 
Poesie schliesst Allen Ginsbergs «Song», eine 
Hymne an die Liebe und Einsamkeit, mit den Worten: 
«| wanted, | always wanted, I always wanted, to 
return to the body where | was born?22.» In diesem 
Zusammenhang gesehen, schlägt Füssli eine derart 
überraschend moderne Richtung ein, dass sich Blake 
zur Bemerkung veranlasst sah: «This country must 
advance two centuries in civilization before it can 
appreciate him23.» 
Füssli betrachtete William Cowper (1731-1800) als 
den grössten Dichter seiner Zeit. Füssli, der gegen 
die Mystik und Esoterik in der Poesie, in der Art wie 
Blake sie pflegte, Einwendungen machte?*, fand 
bei Cowper eine Nüchternheit, Offenheit und 
Menschlichkeit, die ihm entsprachen (während er 
gleichzeitig dasjenige verwarf, was er in Cowpers 
Werk für frömmelnd und moralisierend hielt). Wir 
müssten jedoch darüber staunen, wenn es nur des 
Dichters Schriften gewesen sein sollten, die Füssli 
angezogen haben. Cowper kam spät zur Literatur. 
Er trat mit 48 Jahren zum erstenmal als Autor in 
Erscheinung?25, Sein ganzes Leben hindurch wurde 
er während längerer Zeitabschnitte von Geistes- 
krankheit gequält, wobei er mehrere Male ver- 
suchte, Selbstmord zu begehen. Sogar in seinen 
lichten Zeiten war in seiner Persönlichkeit ein 
unterschwelliger Zug von Verzweiflung und Angst, 
die sich auch in seiner Poesie reflektieren und die 
nach Schiff eine grosse Anziehungskraft auf Füssli 
ausübten2®, Überdies hatte jeder der beiden Männer 
seine Mutter früh verloren, was in ihnen ein Gefühl 
von Isolation und gefühlsmässiger Desorientierung 
hervorrief, die später bei beiden durch wiederholte 
unerwiderte Liebe verschlimmert wurden. Füssli und 
Cowper waren jedoch nicht nur «kindred spirits», 
sondern hatten auch zusammen gearbeitet. Cowper 
begann 1784 seine Übersetzung von Homers ///as 
und Odyssee, welche der belesene Füssli ausführlich 
durchsah und verbesserte?7, Einen anderen wich- 
tigen Hinweis auf ihre gegenseitige Beziehung 
ergibt die Tatsache, dass die Gemälde, die letztlich 
Füsslis « Milton-Galerie» ausmachten, ursprünglich 
als Vorlagen für Stiche vorgesehen waren, die eine 
Milton-Ausgabe illustrieren sollten, mit deren 
Edition Cowper beauftragt worden war. Dieses 
Vorhaben wurde vom Dichter nie zu Ende geführt. 
Füssli machte acht Illustrationen zu Werken von 
Cowper?8, dem einzigen Dichter zu seinen Lebzeiten, 
für den er sich soviel Mühe gab. Jene sind insofern 
bemerkenswert, als sie die einzigen Beispiele im 
(Euvre des Malers darstellen, in denen er «zeit- 
genössisches Leben frei von jener charakteristischen 
Verquickung mit erotisierten und Märchenmotiven» 
darstellt?9. Vier der Illustrationen sind von Cowpers 
bekanntestem Werk 7he Task39, Sie umfassen zu- 
sammen die mannigfaltigen Seiten dieses weit- 
schweifigen pastoral-philosophischen Gedichts — 
von der rasenden Verzweiflung der «Mad Kate» 
(Die wahnsinnige Kate, Schiff 1234) bis zur sanften 
Lyrik in der «Vision des Dichters» (Schiff 1229). 
«<Das Ankleidezimmer> (Schiff 1231) ist ein 
Beispiel für Füsslis Umkehrung der ursprünglichen 
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