Full text: Jahresbericht 1977 (1977)

das reale Leben gekümmert, weil ihnen nichts daran 
lag. Deswegen haben sie nichts dafür getan und 
tun können. Malern, die als Soldaten im Schützen- 
graben sind, in Gefahr von der andern Seite ermor- 
det zu werden, liegt etwas am Leben, sie werden 
also etwas dafür tun... Wenn jetzt etwas In allen 
Menschen gleich lebt, so ist es der knirschende 
Schmerz und Ekel und die Scham, jetzt mit so gutem 
Willen und «gegen so besseres Wissen» ein solches 
Zeitalter zu leben und zu machen. — Wie kann man 
es verantworten, dass es so schrecklich und geist- 
verlassen ist, ohne sein ganzes Gejammer, Ge- 
schmerz und Gebrüll herauszubrechen, so artikuliert 
wie man ist, so präzise wie es das rasend geschärfte 
Bewusstsein von Schuld und Unrecht Schuldigen 
Jnd Guten nur zulässt!.» In derselben Juni-Nummer 
erschien Richters Zeichnung «An die Mütter Euro- 
pas», in der er seinen Ekel und seinen Hass gegen 
den Krieg durch die Darstellung von Schweinen 
ausdrückte, die sich auf tote Menschenleiber stür- 
zen und sie fressen. Die skelettartigen, halb ab- 
gefressenen und zersetzten Körper und Köpfe 
gefallener Soldaten hatte er während seines Kriegs: 
dienstes im Osten mit eigenen Augen gesehen. 
Nach seiner schweren Verwundung war er ent- 
'assen worden, so dass er noch während des Krieges 
n die Schweiz kommen konnte. In der Serie «Die 
Welt den Ochsen und den Schweinen» von 1917 
(Abb. 4) führte er diese Vorstellung weiter aus. 
«Die Welt gehörte zu der Zeit den Ochsen und den 
Schweinen», kommentiert er diese Serie später?. 
Der Ochse als das dumme, selbstsichere, dumpfe, 
aber gefährliche Tier, das Schwein als das listige 
ind gefrässige. «1914 waren es diese Leute, die uns Richter zeichnete In einer weiteren Serie unter dem 
‘n den Krieg trieben, nicht nur in Deutschland, son- Titel «Der Heilige Mitmensch» den Menschen, wie 
dern auch in Frankreich, England und Russland und ar Ihn sich für eine künftige Gesellschaft, in der mar 
lberall®s.» Die Zeichnung, die mit « Groteske» unter- nicht gezwungen wurde zu töten, vorstellte. «Wir 
schrieben ist, gibt die Bildelemente in so abgekürz- wollten nicht mehr mit dieser Gesellschaft leben, 
ter Form wieder, dass manches nur im Vergleich wir wollten mit andern Menschen zusammen 
mit den übrigen Blättern der Serie zu entziffern Ist. leben... Wir wollten einen Menschen, der aus der 
Der Ochsenkopf oben links ist in einer Sonne dar- Menschheit herauswächst, der dieses Zeitalter und 
gestellt, der Schweinekopf unten rechts im Halb- diese Lebensweise transzendiert®.» Der Traum von 
mond. Richter erklärt das mit Erinnerungen aus 
seiner Kindheit auf dem Land. Sein Onkel nahm ihn 
ab und zu auf eine Wildschweinjagd während der 
Nacht mit. «Sie kamen, und ich sah sie in der Erde 
graben und schaufeln wie Pflüge. Ein einziges 
Wildschwein kann einen ganzen Acker in einer 
Nacht umpflügen. Sie sind fürchterlich in ihrer Art, 
mit Ihren Schnauzen in der Erde zu stöbern. Das pas 
siert immer in der Nacht*.» Dagegen schläft der 
ODchse in der Nacht und ist während des Tages 
tätig. «Zwischen der Nacht des Schweins und derr 
Tag des Ochsen bleibt nichts für den Menschen 
übrig*.» Der Mensch zwischen diesen Mächten — 
auf der Teilung zwischen Tag und Nacht dargestellt 
Ist symbolisiert durch ein Herz, betende Hände, 
ain Gesicht und Arme, die aus einem Grab hervor- 
<ommen. In der Mitte transportieren Züge Ge- 
schütze den Hügel hinauf: «Die Schweine sind hier 
mitten unter uns». kommentiert Richter. 
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