Volltext: Jahresbericht 1977 (1977)

einer neuen Menschheit wird in diesen Zeichnungen 
als Vision gestaltet. 
Einige Elemente dieser Zukunftsvision kehren in 
der Porträtserie von Ferdinand Hardekopf wieder. 
Dieser Vertreter einer verheissungsvollen deut- 
schen Schriftstellergeneration vor dem Ersten 
Weltkrieg war ein sehr enger Freund Richters. 
Hardekopf war es gewesen, der Richter veranlasst 
hatte, im Krieg nach Zürich zu kommen. Bei der 
Abschiedsparty für Richter am 15.9.1914 in Berlin, 
als dieser den Einrückungsbefehl erhalten hatte, 
vereinbarte er mit ihm und dem Dichter Ehrenstein 
ain Wiedersehen in genau zwei Jahren um drei Uhr 
im Cafe Terrasse in Zürich. So unwahrscheinlich 
diese Verabredung klang, das Treffen fand tatsäch- 
lich statt, und Richter kam auf diese Weise in die 
Zürcher Dada-Bewegung. « Der Reichtagssteno- 
graph, Gide-Übersetzer, der Poet und Visionär mit 
den tiefliegenden schönen dunklen Augen war vor 
allem ein Liebender», schreibt Richter über Harde- 
kopf. «Den schönen, schweren Kopf in die Schultern 
gezogen, erschien er uns 1912 im alten Cafe des 
Westens in Berlin als Urbild des Dichters, destilliert 
aus viel Baudelaire und etwas Goethe... Er be- 
jahte die Zerstörungslust Dadas, einer Zeit gegen- 
über, die wenig Nobles hervorbrachte, und einer 
Zukunft, die weniger versprach. Aber er misstraute 
doch gleichzeitig dem tolstoianischen Weltver- 
vesserungsglauben ... Er schüttelte den Kopf über 
Rubiners drohend vorgetragene Brüderlichkeit. 
Dabei war er in einem absoluten, nicht in einem 
sentimentalen Sinn für Frieden, Verständigung und 
Duldsamkeit®.» Die Zeichnung «An Hardy» von 
1918 (Abb. 5) ist wiederum nur im Vergleich mit 
der ganzen Porträtserie zu entziffern. Der Kopf des 
Schriftstellers unten rechts ist in seiner diagonalen 
Bewegung eng mit dem dynamischen Ausgreifen 
der schreibenden Hand verbunden. In einer anderen 
Zeichnung unserer Sammlung sieht man deutlich, 
dass er die Schleife des Unendlichkeitszeichens 
niederschreibt. Oben rechts ist eine Kamera zu er- 
kennen, Richters künstlerisches Instrument seit 
1921, als er die ersten abstrakten Filme « Rhyth- 
mus 21» und «Rhythmus 23» herstellt. Oben links 
steht die Gestalt eines Dirigenten mit erhobenem 
Stab, unter ihm die Musiker des Orchesters (in 
anderen Zeichnungen erkennt man noch deutlich 
den Violinspieler links und den Flötenbläser in der 
Mitte). In Erinnerung an das alte «Cafe des 
Westens», den Treffpunkt der Avantgarde vor dem 
zrsten Weltkrieg, in dem Hardekopf eine mass- 
gebende Rolle gespielt hatte, versuchte Richter in 
diesen Zeichnungen sein « Bild der Liebe — Musik 
und nächtliche Welt dieses Dichters einzufangen7». 
Unten links weist eine ausgestreckte Hand auf den 
«Mitmenschen», Richters Vision brüderlicher Liebe. 
Das Zeichen der Unendlichkeit, das der Dichter 
schreibt, ist «das Symbol für alles, die Quintessenz 
der Künste und ihre letztliche Verwandtschaft mit 
dem Universalen, dem Geistigen®? ». Die Kommen- 
‚are Richters verraten einiges von dem Idealismus 
ınd Pathos der damaligen Zeit. 
Die besprochenen Serien sind in einem spontanen, 
andeutenden und abkürzenden Kritzelstil gezeichnet, 
bei dem der Automatismus, das Unbewusste und 
der Zufall eine grosse Rolle spielen. Die Entdeckung 
des Zufalls als neuer Stimulans des künstlerischen 
Schaffens löste eines der entscheidendsten und 
wichtigsten Verfahren Dadas aus. «Uns erschien der 
Zufall als eine magische Prozedur, mit der man sich 
über die Barriere der Kausalität, der bewussten 
Nillensäusserung hinwegsetzen konnte, mit der 
das innere Ohr und Auge geschärft wurden, bis 
neue Gedanken- und Erlebnisreihen auftauchten 
Der Zufall war für uns jenes <«Unbewusste>, das 
-reud schon 1900 entdeckt hatte?®.» Jeder Dadaist 
untersuchte diese neue Entdeckung auf seine Weise. 
«Was micht betrifft», schreibt Richter, «so erinnere 
ich mich, dass ich meine «Visionären Porträts» 1917 
vorzugsweise In der Dämmerung zu malen begann, 
wenn die Farben auf der Palette kaum noch zu 
unterscheiden waren. Da aber jede Farbe ihren 
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