einer neuen Menschheit wird in diesen Zeichnungen
als Vision gestaltet.
Einige Elemente dieser Zukunftsvision kehren in
der Porträtserie von Ferdinand Hardekopf wieder.
Dieser Vertreter einer verheissungsvollen deut-
schen Schriftstellergeneration vor dem Ersten
Weltkrieg war ein sehr enger Freund Richters.
Hardekopf war es gewesen, der Richter veranlasst
hatte, im Krieg nach Zürich zu kommen. Bei der
Abschiedsparty für Richter am 15.9.1914 in Berlin,
als dieser den Einrückungsbefehl erhalten hatte,
vereinbarte er mit ihm und dem Dichter Ehrenstein
ain Wiedersehen in genau zwei Jahren um drei Uhr
im Cafe Terrasse in Zürich. So unwahrscheinlich
diese Verabredung klang, das Treffen fand tatsäch-
lich statt, und Richter kam auf diese Weise in die
Zürcher Dada-Bewegung. « Der Reichtagssteno-
graph, Gide-Übersetzer, der Poet und Visionär mit
den tiefliegenden schönen dunklen Augen war vor
allem ein Liebender», schreibt Richter über Harde-
kopf. «Den schönen, schweren Kopf in die Schultern
gezogen, erschien er uns 1912 im alten Cafe des
Westens in Berlin als Urbild des Dichters, destilliert
aus viel Baudelaire und etwas Goethe... Er be-
jahte die Zerstörungslust Dadas, einer Zeit gegen-
über, die wenig Nobles hervorbrachte, und einer
Zukunft, die weniger versprach. Aber er misstraute
doch gleichzeitig dem tolstoianischen Weltver-
vesserungsglauben ... Er schüttelte den Kopf über
Rubiners drohend vorgetragene Brüderlichkeit.
Dabei war er in einem absoluten, nicht in einem
sentimentalen Sinn für Frieden, Verständigung und
Duldsamkeit®.» Die Zeichnung «An Hardy» von
1918 (Abb. 5) ist wiederum nur im Vergleich mit
der ganzen Porträtserie zu entziffern. Der Kopf des
Schriftstellers unten rechts ist in seiner diagonalen
Bewegung eng mit dem dynamischen Ausgreifen
der schreibenden Hand verbunden. In einer anderen
Zeichnung unserer Sammlung sieht man deutlich,
dass er die Schleife des Unendlichkeitszeichens
niederschreibt. Oben rechts ist eine Kamera zu er-
kennen, Richters künstlerisches Instrument seit
1921, als er die ersten abstrakten Filme « Rhyth-
mus 21» und «Rhythmus 23» herstellt. Oben links
steht die Gestalt eines Dirigenten mit erhobenem
Stab, unter ihm die Musiker des Orchesters (in
anderen Zeichnungen erkennt man noch deutlich
den Violinspieler links und den Flötenbläser in der
Mitte). In Erinnerung an das alte «Cafe des
Westens», den Treffpunkt der Avantgarde vor dem
zrsten Weltkrieg, in dem Hardekopf eine mass-
gebende Rolle gespielt hatte, versuchte Richter in
diesen Zeichnungen sein « Bild der Liebe — Musik
und nächtliche Welt dieses Dichters einzufangen7».
Unten links weist eine ausgestreckte Hand auf den
«Mitmenschen», Richters Vision brüderlicher Liebe.
Das Zeichen der Unendlichkeit, das der Dichter
schreibt, ist «das Symbol für alles, die Quintessenz
der Künste und ihre letztliche Verwandtschaft mit
dem Universalen, dem Geistigen®? ». Die Kommen-
‚are Richters verraten einiges von dem Idealismus
ınd Pathos der damaligen Zeit.
Die besprochenen Serien sind in einem spontanen,
andeutenden und abkürzenden Kritzelstil gezeichnet,
bei dem der Automatismus, das Unbewusste und
der Zufall eine grosse Rolle spielen. Die Entdeckung
des Zufalls als neuer Stimulans des künstlerischen
Schaffens löste eines der entscheidendsten und
wichtigsten Verfahren Dadas aus. «Uns erschien der
Zufall als eine magische Prozedur, mit der man sich
über die Barriere der Kausalität, der bewussten
Nillensäusserung hinwegsetzen konnte, mit der
das innere Ohr und Auge geschärft wurden, bis
neue Gedanken- und Erlebnisreihen auftauchten
Der Zufall war für uns jenes <«Unbewusste>, das
-reud schon 1900 entdeckt hatte?®.» Jeder Dadaist
untersuchte diese neue Entdeckung auf seine Weise.
«Was micht betrifft», schreibt Richter, «so erinnere
ich mich, dass ich meine «Visionären Porträts» 1917
vorzugsweise In der Dämmerung zu malen begann,
wenn die Farben auf der Palette kaum noch zu
unterscheiden waren. Da aber jede Farbe ihren
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