Full text: Jahresbericht 1977 (1977)

(angestammten» Platz auf der Palette hatte, konnte 
die Hand mit dem Pinsel die zu wählenden Farben 
auch im Dunkeln finden. Und dunkler wurde es ..., 
bis am Ende die Farbflecken nur noch wie In einer 
Art Selbst-Hypnose auf die Leinwand gesetzt wur- 
den, fühlend und spontan tastend, wie sie sich mir 
auf-drängten oder zu-fielen, so dass sich das Bild 
mehr vor dem inneren als vor dem sehenden Auge 
vollenden musste!9.» 
Das von Frau Richter geschenkte Bild «B/auer 
Mann» (Abb. 8) (sowie im weitesten Sinne auch 
das Bild « Herbst») gehört in die Reihe der «Visio- 
nären Porträts», von denen 1917 in wenigen Mona- 
ten beinahe hundert entstanden. Der Begriff 
«visionär» bezieht sich nicht nur auf das Arbeits- 
verfahren, er bezeichnet auch den Ausdruck der 
"nneren Existenz der porträtierten Persönlichkeit. 
Dargestellt ist der spanische Graf Pedroso, ein 
Freund des Politikerjournalisten Julio Alvarez del 
Vayo, der zum engeren Kreis um Hugo Ball und 
Emmy Hennings gehörte. Das Frappierende an 
diesem Porträt ist, dass der mächtige Kopf des 
Spaniers völlig monochrom, blau in blau, gemalt ist. 
Die Details des Gesichtes heben sich nur durch 
Nuancierungen des Blaus voneinander ab. Allein 
die Augen sind durch eine weisse Umrandung 
herausgehoben, und die Verschiedenartigkeit ihrer 
Form wird betont, indem das linke blau, das rechte 
dagegen braun ist. Die Augen in ihrer offensicht- 
iichen Unterschiedlichkeit geben dem Porträt das 
Durchdringende und Beschwörende. « Meine Visio- 
nären Porträts von 1917 drücken die innere Existenz 
des Menschen aus, weshalb in vielen Köpfen ein 
Auge nach innen und ein Auge nach aussen 
schaut!!.» Der Konzentration der Farbe entspricht 
die Konzentration der Form auf einfache Elemente: 
die Eiform des Kopfes, die so deutlich hervortritt, 
weil die Ohren weggelassen sind, die Keilform der 
Nase und die Birnenform der Kinnpartie. Die Reduk- 
tion auf wenige Grundformen erinnert zusammen 
mit den kantigen Schatten an Richters kubistisch 
beeinflusste Zeit. Die Farbigkeit dagegen, vor allem 
der tachistisch aufgelockerte, abstrakte Hinter- 
grund in Rot, Gelb und Braun, Ist stark vom 
Expressionismus und « Blauen Reiter» geprägt. 
Hier wie dort wird die Farbe nicht mehr abbildhaft 
in Nachahmung vorgefundener Wirklichkeit ein- 
gesetzt, sondern in ihrem eigenständigen Ausdrucks 
und Gefühlsgehalt. Die Farbe Blau, die im « Blauen 
Reiter» als programmatische Farbe gewählt wird, 
bedeutet seit der Romantik die Sehnsucht nach 
geistiger Erfüllung. Farblich wie formal erstrebt 
Richter somit unter Weglassung aller nebensäch- 
jichen Details die Erfassung der Persönlichkeit in 
ihrem Wesenskern. 
Der spontane, fast automatische Prozess, mit dem 
Richter 1917 seine «Visionären Porträts» malte, 
befriedigte ihn bald nicht mehr. Aus der Erkenntnis. 
dass «Vernunft und Anti-Vernunft, Sinn und Un- 
Sinn, Plan und Zufall, Bewusstsein und Un- 
Zewusstsein zusammengehören und notwendige 
Teile eines Ganzen darstellen'?», suchte er nach 
ainem Gleichgewicht zwischen Unbewusstem und 
Bewusstem. Er kehrte zu den strukturellen Pro- 
blemen seiner kubistischen Periode zurück. Er 
lernte zu der Zeit Ferruccio Busoni kennen, der Ihm 
riet, die Prinzipien des musikalischen Kontrapostes 
zu studieren, um sie auf die Elemente der Malerei 
anzuwenden. Richter benutzte dafür Köpfe, die ihm 
seit seinen ersten Bildniszeichnungen, die er als 
Vierzehnjähriger von seinen Freunden, Klassen- 
Kameraden, Lehrern und Familienangehörigen 
machte, zum vertrautesten Motiv geworden waren. 
An dem Thema des Kopfes vollzog sich seine Ent- 
wicklung zur Abstraktion. Wie in dem «Dada-Kopf) 
von 1917 (Abb. 7) bereits erkennbar wird, begann 
Richter frei mit den Elementen zu spielen. Er baute 
seine Bilder kontrapunktisch aus Schwarzweiss- 
flächen auf, wobei das Hell und das Dunkel, das 
Positive und das Negative in ein dynamisches 
Verhältnis zueinander traten. Sehr rasch kam er vorn 
den noch gegenständlichen Köpfen zu abstrakten 
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