FRANZ GERTSCH, «FRANZ UND LUCIANO», 1973
«Ein Diapositiv zu interpretieren ist so ereignis-
reich wie die Natur zu interpretieren.» Mit dieser
Aussage interpretiert Franz Gertsch sein eigenes
Werk und erklärt zugleich, warum er die photo-
graphische Vorlage als wesentlichen Bestandteil
seiner Malerei auserwählt hat. Franz Gertsch, 1930
in Mörigen bei Bern geboren, ist der führende
Photorealist der Schweiz, und mindestens seit der
Documenta 1972 hat er die internationale Kunst-
szene betreten. Er ist somit aufgenommen in die
grosse Bewegung des photographischen Realismus,
der seine Vertreter sowohl in Amerika wie In
Europa hat. Was Franz Gertsch von den ameri-
kanischen und auch den meisten europäischen
Photo- oder Hyperrealisten — wie Immer man die
<unstrichtung bezeichnen will — unterscheidet, ist
grundsätzlicher Art: während fast alle Photo-
realisten Ihre Bilder spritzen, malt Gertsch beinahe
altmeisterlich mit dem Pinsel. Hinter jedem Bild
von Gertsch steht ein langer handwerklicher
Arbeitsprozess und eine malerische Tradition, die
den amerikanischen Hyperrealisten fremd ist.
Gertsch sucht den Widerstand der Leinwand, mit
der er sich auseinandersetzen will. Er benutzt sie
ungrundiert. So saugt sich die Farbe in die Lein-
wand ein — wie bei Morris Louis oder Mark
Rothko, ohne deren Vorbild Gertsch wohl kaum
auf diese Methode des Farbauftrags gekommen
wäre. Die enge Verbindung von Farbe und Lein-
wand begünstigt eine stoffliche Wirkung dieser
Malerei, die wiederum ganz aus der Farbe resultiert.
Seit Franz Gertsch sein erstes Bild nach einer
photographischen Vorlage vor acht Jahren malte.
sind nicht sehr viel mehr als ein Dutzend Bilder
entstanden. Der Arbeitsprozess ist lang und braucht
Geduld und Ausdauer.
Das Bild « Franz und Luciano» entstand 1973, zu
einem Zeitpunkt, da Gertsch bereits durch seine
Malweise Aufsehen erregt hatte. Man darf es
zweifellos als ein typisches Bild des Malers be-
zeichnen. Porträtiert ist ein Freundespaar aus der
privaten Kreis des Malers. Über Jahre hat Franz
Gertsch nur Familie und Freunde gemalt, Menscher
also, die Ihm persönlich nahestanden. Auftrags-
Dilder, so meint er selbst, wären ihm unmöglich.
Er muss Mensch, Situation, Sujet selbst wählen
können. Luciano (der Maler Luciano Castelli aus
Luzern) gehört zu den bevorzugten « Modellen».
Jedem Bild liegt eine Reihe von photographischen
Aufnahmen zugrunde, die Gertsch selbst macht. Eı
trifft die Auswahl und entscheidet damit, welche
Dhotographie Ihm bildwürdig erscheint. Das Dia-
positiv wird projiziert und auf das Format gebracht
das dem Maler vorschwebt. Immer geht das Bild
über Lebensgrösse hinaus. Dann setzt der lang-
wierige Arbeitsprozess ein. Was an allen Bildern
von Franz Gertsch sofort ins Auge fällt: die starke
Transparenz der Farben. Das Licht des Diapositivs
wird tatsächlich durch die transparente Farb-
gebung neu geschaffen. Das Sujet des Zürcher
Bildes ist aus dem banalen Alltag gegriffen wie alle
Bilder von Gertsch: Halbfigurenporträts im Halb-
orofil In einem Raum — es ist die Eintrittshalle des
Luzerner Kunstmuseums —, der kaum durch
Nennenswertes markiert ist, eine Wand mit zwei
angeschnittenen Bildtafeln, Teil eines Pakets. Die
Bedeutsamkeit liegt allein auf den Figuren, die in
packender Präsenz wiedergegeben sind. Beide
schauen nach rechts, beobachten etwas, was
ausserhalb des Bildes geschieht, Franz mit leicht
geöffnetem Mund, Luciano mit geschlossenen
Lippen. Der eine blond, der andere dunkel, einer
mit hellblauer Jeansjacke und buntgestreiftem
Pullover gekleidet, der andere dunkel und unauf-
:ällig. All das sind Unterschiede, die Gertsch
natürlich auf der photographischen Vorlage gesehe!
hat und die Ihm für die Bildkomposition wichtig
schienen. Für jeden Betrachter verblüffend ist die
Präzision, mit der das Bild gemalt ist. Jedes
kleinste Detail ist sorafältig wiedergegeben. Dabei
an