Full text: Jahresbericht 1978 (1978)

lese die Adresse: Monsieur Roderic O’Conor. 
Es kamen andere Maler: de Chamaillard, der in 
seinem Hause viele Gauguins hatte; es kam Emile 
Bernard, der mir die ersten Van Goghs zeigte und 
von Cezanne sprach. Es kamen Seguin, Moret und 
Serusier. Es gab ein grosses Diskutieren und Theo- 
retisieren. Von England kamen sie, von Schweden, 
Dänemark und Norwegen.» 
Der Aufenthalt in der Bretagne wurde für Amiet 
zur Offenbarung. Merkwürdigerweise kamen Gila- 
cometti und Amiet während ihrer vorangegangenen 
Pariser Zeit nicht mit den zukunftsweisenden 
Tendenzen der französischen Malerei in Berührung; 
weder die Impressionisten noch die Neoimpres- 
sionisten, weder Cezanne noch van Gogh waren 
ihnen ein Begriff — und dies, obwohl sie die 
Academie Julian zur gleichen Zeit wie Bonnard, 
Vuillard, Vallotton, Denis und Ranson besuchten 
Da Gauguin zur Zeit von Amiets Pont-Aven-Auf- 
enthalt bereits in Tahiti weilte, waren Bernard, 
Serusier, Sequin, Moret, de Chamaillard und vor 
allem der Ire O’Conor diejenigen Maler, die Ihn in 
die Probleme von « Synthetisme» und « Cloi- 
sonnisme», die Hauptanliegen der Malergruppe von 
Pont-Aven, einführten. Bernard vermittelte Amiet 
zudem die Überlegungen und Bildvorstellungen 
van Goghs und Cezannes. Der Maler-Rechts- 
gelehrte de Chamaillard besass in seinem Hause 
eine Sammlung, deren Stolz neben den Bildern der 
bretonischen Gruppe mehrere Werke von van Gogh 
bildeten. So geriet Amiet in ein künstlerisches 
Klima, dessen stärkste Vertreter, Gauguin und van 
Gogh, er nicht persönlich, sondern nur In ihren 
Werken kennenlernen konnte. Seine eigenen 
Bilder aus dieser Zeit spiegelten denn auch sehr 
deutlich die Einflüsse der beiden sich im Grunde 
ausschliessenden Ansichten. Amiet unternahm den 
Versuch, den expressiv gesteigerten Pinselstrich 
van Goghs mit den in sich geschlossenen Flächen 
von Gauguins Cloisonnismus zu verbinden. Die 
Werke. die Amiet in den 13 Monaten seines bre- 
tonischen Aufenthaltes gemalt hat, zeigen ein 
deutliches Pendeln zwischen den beiden stilistische 
Richtungen, wobei ihm eine Synthese in den 
bedeutendsten Werken, zu denen zweifellos die 
«Liegende Bretonin» gehört, gelingt. Die räumliche 
Gliederung dieses Bildes ist wohl die kühnste, die 
Amiet in seiner Frühzeit gewagt hat. Sein späteres 
Schaffen vorwegnehmend ist die Farbgebung, die 
den ihn zeit seines Lebens faszinierenden Klang 
von Rosa und Gelb erstmals zu voller Wirkung 
bringt. Merkwürdigerweise lässt die inhaltliche 
Deutung Zweifel offen. Amiet selbst hat in seiner 
späten Jahren gegenüber der Besitzerfamilie 
betont, dass es sich um einen liegenden Knaben 
handle, obwohl weisse Krause wie Haube eher au 
ein Mädchen deuten würden. Die vom gelben 
Blütenzweig leicht angeschnittene orange Kugel 
wurde auch schon als Orange gedeutet, was woh 
falsch ist, ist doch aller Wahrscheinlichkeit nach 
ein Wollknäuel eines Strickzeugs dargestellt, was 
auch eher auf ein Mädchen schliessen lassen 
würde. Wichtiger jedenfalls als die Frage des Ge: 
schlechts des oder der Dargestellten scheint mir 
ein abschliessender Hinweis darauf, dass mit diese 
Bild der Vereinigung Zürcher Kunstfreunde ein 
Ankauf von grossem Seltenheitswert gelungen ist, 
sind doch 1931 anlässlich des Brandes des 
Münchner Glaspalastes einige der bedeutendsten 
Bilder aus Amiets Pont-Aven-Zeit verbrannt, so 
dass nur noch wenige Werke so rein das ausdrücke: 
können, was der Künstler selbst als sein Ziel 
nannte: «Von Frankreichs Kunst, von Frankreichs 
Wesen das mitzubringen, was unsere Schweizer 
Kunst veredeln, was unser Schweizertum erheben 
kann.» 
1895 besuchte Amiet Giovanni Giacometti und 
erzählte ihm von Gauguin und van Gogh. Giaco- 
metti seinerseits machte ihn mit Giovanni Segantin 
bekannt. Segantinis Einfluss auf Giovanni Glaco- 
metti war in jenen Jahren dominierend; er hat 
jedoch nicht so weitreichende Folgen gehabt wie 
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