lese die Adresse: Monsieur Roderic O’Conor.
Es kamen andere Maler: de Chamaillard, der in
seinem Hause viele Gauguins hatte; es kam Emile
Bernard, der mir die ersten Van Goghs zeigte und
von Cezanne sprach. Es kamen Seguin, Moret und
Serusier. Es gab ein grosses Diskutieren und Theo-
retisieren. Von England kamen sie, von Schweden,
Dänemark und Norwegen.»
Der Aufenthalt in der Bretagne wurde für Amiet
zur Offenbarung. Merkwürdigerweise kamen Gila-
cometti und Amiet während ihrer vorangegangenen
Pariser Zeit nicht mit den zukunftsweisenden
Tendenzen der französischen Malerei in Berührung;
weder die Impressionisten noch die Neoimpres-
sionisten, weder Cezanne noch van Gogh waren
ihnen ein Begriff — und dies, obwohl sie die
Academie Julian zur gleichen Zeit wie Bonnard,
Vuillard, Vallotton, Denis und Ranson besuchten
Da Gauguin zur Zeit von Amiets Pont-Aven-Auf-
enthalt bereits in Tahiti weilte, waren Bernard,
Serusier, Sequin, Moret, de Chamaillard und vor
allem der Ire O’Conor diejenigen Maler, die Ihn in
die Probleme von « Synthetisme» und « Cloi-
sonnisme», die Hauptanliegen der Malergruppe von
Pont-Aven, einführten. Bernard vermittelte Amiet
zudem die Überlegungen und Bildvorstellungen
van Goghs und Cezannes. Der Maler-Rechts-
gelehrte de Chamaillard besass in seinem Hause
eine Sammlung, deren Stolz neben den Bildern der
bretonischen Gruppe mehrere Werke von van Gogh
bildeten. So geriet Amiet in ein künstlerisches
Klima, dessen stärkste Vertreter, Gauguin und van
Gogh, er nicht persönlich, sondern nur In ihren
Werken kennenlernen konnte. Seine eigenen
Bilder aus dieser Zeit spiegelten denn auch sehr
deutlich die Einflüsse der beiden sich im Grunde
ausschliessenden Ansichten. Amiet unternahm den
Versuch, den expressiv gesteigerten Pinselstrich
van Goghs mit den in sich geschlossenen Flächen
von Gauguins Cloisonnismus zu verbinden. Die
Werke. die Amiet in den 13 Monaten seines bre-
tonischen Aufenthaltes gemalt hat, zeigen ein
deutliches Pendeln zwischen den beiden stilistische
Richtungen, wobei ihm eine Synthese in den
bedeutendsten Werken, zu denen zweifellos die
«Liegende Bretonin» gehört, gelingt. Die räumliche
Gliederung dieses Bildes ist wohl die kühnste, die
Amiet in seiner Frühzeit gewagt hat. Sein späteres
Schaffen vorwegnehmend ist die Farbgebung, die
den ihn zeit seines Lebens faszinierenden Klang
von Rosa und Gelb erstmals zu voller Wirkung
bringt. Merkwürdigerweise lässt die inhaltliche
Deutung Zweifel offen. Amiet selbst hat in seiner
späten Jahren gegenüber der Besitzerfamilie
betont, dass es sich um einen liegenden Knaben
handle, obwohl weisse Krause wie Haube eher au
ein Mädchen deuten würden. Die vom gelben
Blütenzweig leicht angeschnittene orange Kugel
wurde auch schon als Orange gedeutet, was woh
falsch ist, ist doch aller Wahrscheinlichkeit nach
ein Wollknäuel eines Strickzeugs dargestellt, was
auch eher auf ein Mädchen schliessen lassen
würde. Wichtiger jedenfalls als die Frage des Ge:
schlechts des oder der Dargestellten scheint mir
ein abschliessender Hinweis darauf, dass mit diese
Bild der Vereinigung Zürcher Kunstfreunde ein
Ankauf von grossem Seltenheitswert gelungen ist,
sind doch 1931 anlässlich des Brandes des
Münchner Glaspalastes einige der bedeutendsten
Bilder aus Amiets Pont-Aven-Zeit verbrannt, so
dass nur noch wenige Werke so rein das ausdrücke:
können, was der Künstler selbst als sein Ziel
nannte: «Von Frankreichs Kunst, von Frankreichs
Wesen das mitzubringen, was unsere Schweizer
Kunst veredeln, was unser Schweizertum erheben
kann.»
1895 besuchte Amiet Giovanni Giacometti und
erzählte ihm von Gauguin und van Gogh. Giaco-
metti seinerseits machte ihn mit Giovanni Segantin
bekannt. Segantinis Einfluss auf Giovanni Glaco-
metti war in jenen Jahren dominierend; er hat
jedoch nicht so weitreichende Folgen gehabt wie
712