Volltext: Jahresbericht 1979 (1979)

der Frottage im Durchreiben von Gegenständen ent- 
standenen Strukturen in Max Ernsts Phantasie unge 
wohnte Bilder entstehen, die er nachträglich durch 
bewusste Ergänzungen verdeutlichte. Die vorgefun- 
denen Texturen versetzten ihn in die Lage, seinen 
«Jungfräulichkeitskomplex>» gegenüber dem leeren 
Blatt zu überwinden und seine meditativen und hal- 
luzinatorischen Fähigkeiten zu steigern. In Andre 
Thomkins graphischem Werk lassen sich mancher- 
lei Beziehungen zum Surrealismus aufzeigen. 1956 
überarbeitet er Zeitungsbilder, er <kitzelt» sie mit der 
Feder und deutet so ihren Inhalt um. Er verwendet 
in demselben Jahr Strichelich6&s in ganz ähnlicher 
Weise wie Max Ernst und macht 1961 «Knülldrucke» 
von um eine Kleberolle herumgeknautschtem Pa- 
pier, die eine ähnliche Wirkung haben wie die von 
Max Ernst mit geknülltem Papier im Vernis-mou- 
Verfahren hergestellten Blätter für «Une semaine de 
bonte&> von 1934, Auch die «Scharniere» in dem 
Bändchen «OH, CET ECHO) von 1963, in denen er 
eine Art von Rorschach-Bild mit einem Lackfaden 
erzielt, nehmen surrealistische Techniken auf. «Zu 
jener Zeit habe ich mit meinen Materialdrucken vie- 
les verfolgt, was die Surrealisten postuliert, aber 
nicht unbedingt realisiert haben: einen unbewuss- 
ten, letztlich wirklich nicht kontrollierbaren, nur 
intuitiv lenkbaren Ausdruck für Dinge zu finden, die 
an die Oberfläche gehoben werden können.» 6 
Betrachten wir noch einmal Thomkins’ Rapport- 
muster, die auch heute noch für ihn eine Voraus- 
setzung dafür bilden, Dinge <an die Oberfläche» zu 
heben, so wird deutlich, dass seinem Spiel inner- 
halb des Gesetzes Grenzen gesetzt sind. Die ent- 
standenen Figuren bleiben an den Raster gebunden, 
sie können sich nicht frei bewegen, sondern müssen 
sich mit ihren Körperpositionen nach dem System 
richten. Ihre Arm- und Beinhaltungen sind merk- 
würdig verrenkt, ihre Rücken oft gebogen, wenn sie 
sich an eine vorgegebene Kurve anzulehnen haben, 
und die Grössenverhältnisse innerhalb einer Szene 
sind sehr unterschiedlich. Das gibt dem Künstler 
jedoch auch die Möglichkeit, aus den traditionellen 
Vorstellungen der «richtigen» Proportionen und des 
akademisch «schönen» Menschenbildes auszubre- 
chen und neue, unverbrauchte Bewegungsrhythmer 
zu finden. Bereits an den Manieristen bewundert 
Thomkins, dass sie die Körper in solche Positionen 
gebracht haben, dass sie aufregend sind. Obwohl 
er sich den alten Meistern verbunden weiss, kann 
er als Künstler unserer Zeit solche aufregenden 
Positionen nicht mehr dırekt darstellen, sondern nur 
noch indirekt, gebrochen und rekonstruiert nach 
«Passage eines Siebes, eines Musters>. Das Gebun- 
densein führt jedoch zu neuer schöpferischer Frei- 
heit. Aus den Bedingungen der Unterwerfung unter 
das Gesetz ergeben sich Möglichkeiten neuen Ge- 
staltens. Sein Ziel ist es, «in den Gesetzeszwängen 
eines Musters ein Spiel zu entfalten, das vielfältig 
genug ist, zwischen wendigem Wandel und Still- 
stand eine paradoxe „Lebendige Haltung” zu fin- 
den)». 7 
Das gleiche gilt für das Raumgefüge, das durch das 
Überschneiden von Elementen und das Übergreifen 
von Figuren über mehrere Strukturfelder hinweg 
entsteht. Der Raum ist durch den konstruktiven 
Raster gebrochen, befreit sich aber gerade dadurch 
von dem einheitlichen Perspektivraum überkomme- 
ner Prägung. Es gibt keine einheitliche zusammen- 
fassende Sicht mehr, keine Komposition, in der alle 
Bildteile auf ein Geschehen hin konzipiert sind. Das 
Ganze ist nur noch in Brüchen sichtbar. Mir scheint, 
Thomkins’ Blätter demonstrieren in beispielhafter 
Weise unsere heutige Unfähigkeit, unsere Welt als 
gesellschaftliches Gesamtbild darstellen zu können. 
Dazu befragt, meint Thomkins, dass das stimme; er 
stelle sich jedoch vor, dass das Ganze doch da sei, 
auch wenn man es nicht organisieren könne. Das 
verbindende Element bei allen Brüchen sei das 
Strukturnetz. Das Netz ist die Voraussetzung für die 
Entstehung der Figuren, es ist «ihre Herkunft, ihr 
Schicksal. 8 
Ursula Perucchi-Petri 
Gl
	        
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