Full text: Jahresbericht 1982 (1982)

ANSELM KIEFER, Parsifal, 19/4 
Jnter den im Berichtsjahr angekauften zeitgenössi- 
schen Bildern findet sich eines der Hauptwerke aus der 
Frühzeit des nunmehr international anerkannten Jungen 
deutschen Malers: Parsifal von 1973 (Öl und Eisen- 
5xyd, leinölgesättigte Rauhfasertapete auf Leinwand). 
Kiefer verbindet in seinen Bildern (hier 300 x 560 cm), 
die Innenräume fast im Massstab 1:1 erscheinen las- 
sen, in exemplarischer Weise malerischen Gestus und 
Impetus mit inhaltlichen Dimensionen. Parsifal, wie 
auch das bis vor kurzem in der Ausstellung «Der Hang 
zum Gesamtkunstwerk) gezeigte Deutschlands Geistes- 
helden, 1973 (307 x 682), sind Musterbeispiele für das 
Recht auf den Traum, das jüngere Maler sich im letzten 
Jahrzehnt vehement angeeignet haben. Kiefer gibt in 
unserem Bild in Uminterpretation der Realität seinen 
Dachboden im Schulhaus von Hornbach als Szene, als 
Theaterraum aus. Die zentralperspektivisch angelegte 
einfache Balkenstruktur mit Holzboden und fensterloser 
schräger Rückwand, ein mysteriöser Lichteinfall aufs 
Zentrum transformieren die räumlichen Gegebenen sei- 
nes Ateliers, das in diesen Jahren Hauptzeuge und 
-akteur in der Reevokation von Themen ist, die den Ma- 
ler nicht in Form der Vergangenheitsbewältigung, son- 
dern als Weiterspinnen am Mythos deutscher Ge- 
schichte beschäftigen. Zugleich ist Parsifal eine Ausein- 
andersetzung mit Malerei. Nicht von ungefähr sind es 
Formate früherer Historienbilder, aber auch von Pol- 
'ocks gedrippten Energiefeldern. Bei Kiefer werden die 
expressiven Elemente, die vom Duktus her befreiten 
Maserierungen des Holzes, gewissermassen in die 
Architektur einverwobene musikalische Linienspiele, 
gebändigt und der Raumflucht der befreiten Trag- 
elemente des Daches, dramatisch übersteigerten Hin- 
führungselementen, untertan gemacht. Eine gross- 
artige, nordisch-archaische, wilde, krachende Holz- 
Konstruktion als Raum für das stille Geschehen, das auf 
den ersten Blick keines ist. In dem Zustandsstilleben 
fehlt die Aktion und der Akteur. Und doch ist Gesche- 
hen in der Ahnung. Auf einem Schemel ruht eine 
Emailwaschschüssel mit roter Farbe, die überschwappt 
und runtertropft. Ein Ding in Aktion, ein Ding mit myste- 
‚ösen Eigenkräften wird isoliert und dramatisiert. Wir 
<ennen diese Waschschüssel und ihre Ikonographie in 
Beuys’ Werk, bei dem Kiefer 1970 studierte. Für Beuys 
st eine solche Schale Abbreviatur der Fusswaschungs- 
symbolik. Er hat sie als Aktionsrelikt in einem jeweils 
grösseren Ensemble von Gegenständen, die scheinbar 
nichts miteinander zu tun haben, aber alle vom unsicht- 
baren Strom der pulsierenden Energie in den Dingen 
arfüllt sind, verwendet. Beuys dramatisiert die Anord- 
nung der Dinge, aber nicht das einzelne Ding, weil er 
sie als Realien belässt. Kiefer nutzt den Abstraktions- 
arozess der Malerei von drei auf zwei Dimensionen, um 
das Ding zu isolieren und dramatisch zu präsentieren 
und das Geschehen zum Wunder zu erhöhen. Dies er- 
-eicht er zusätzlich mit im Dekorum schwebenden In- 
schriften: «Parsifal», «Höchsten Heiles Wunder, Erlösung 
dem Erlösen und «Amfortas». Wir kennen das Prinzip 
der suggestiven Szenenanweisungen bei Shakespeare, 
um die Orte der Handlung näher zu bezeichnen. Doch 
in diesem Bild ersetzen die Namen und Zitate auch die 
Menschen, evozieren die mythischen Orte und Helden, 
verwandeln rote Farbe in Blut, eine Waschschüssel in 
die Reliquie des lebendigen, lichtspendenden Blutes 
des Gekreuzigten im Wunder des HI. Gral. Parsifal, der 
-eine Tor, der Heilung bringt, Amfortas, der sündige 
König, der an der Wunde leidet, sie werden durch die 
Schlussverse von Richard Wagners Bühnenweihfest- 
spiel, in dem er den höchsten Mysterien des christ- 
lichen Glaubens Gestalt geben wollte, in uns aktiv. Und 
damit auch das Wissen um das Auseinanderfallen der 
Vorstellung des erlittenen Kreuztodes als Vorbild und 
der losgelösten Wunde als theatralischer Diskurs über 
das Leiden, das nicht mehr selbst erlebt, sondern sym- 
»olisiert wird. Kiefer hat als kaum Dreissigjähriger das 
Nunder vollbracht, über das Wunder der Malerei und 
durch den Verzicht auf jegliches durch die Wagnerre- 
zeptionsgeschichte suggerierte Beiwerk, die HI. Wand- 
lung als Andachtsbild für Zeitgenossen zu malen. Als 
Nichthistorienbild, das im Hirn des Betrachters den My- 
then freien Lauf lässt und gleichzeitig an den Anker- 
plätzen der neueren Kunst anlegt, bei Duchamp, bei 
Dollock, bei Beuys, bei Syberberg. Harald Szeemann 
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