DIE DRUCKGRAPHIK
VON MARCEL BROODTHAERS
Das Kunsthaus Zürich konnte für seine Graphische
Sammlung die gesamte Druckgraphik von Marcel
Broodthaers (1924-1976) dank einem Geschenk des
Migros-Genossenschaftsbundes erwerben. Es sind
25 Editionen aus den Jahren 1964 bis 1975, die
ausser druckgraphischen Blättern unter anderem
auch eine bedruckte Photoleinwand, einen Film
sowie eine klare Glasflasche mit dem Titel «Le
manuscrit trouve dans une bouteille» umfassen.
Der in Brüssel geborene Broodthaers war als Dich-
ter, Schriftsteller und Journalist tätig, bevor er 1964
beschloss, sich fortan der bildenden Kunst zu
widmen. Er vollzog diesen Schritt mit seinem
Gedichtband «Pense-Bäte», indem er ein Paket von
fünfzig dieser Bände unten in entsprechend
geformten Gips stellte und das Paketpapier oben
gleichzeitig so weit entfernte, dass man die Buch-
ränder sehen konnte. Auf diese Weise gestaltete er
das Ganze zu einer Skulptur um. Das Objekt
verkörpert ein Leseverbot: es war nicht möglich, die
Bücher aufzuschlagen und die Gedichte zu lesen,
ohne den plastischen Aspekt des Werkes zu verän-
dern oder zu zerstören. Zu Broodthaers’ Erstaunen
irritierte dies aber niemanden; das Objekt wurde
vielmehr als künstlerischer Ausdruck oder als Kurio-
sität verstanden. Hatte Broodthaers nach seinen
eigenen Worten bisher für ein fiktives Publikum ge-
arbeitet, so begann er dieses nun als Realität in sein
Schaffen einzubeziehen: <... mein Publikum war
fiktiv. Plötzlich wurde es auf jener Ebene real, wo es
um die Frage des Raumes und der Eroberung
geht.»! Broodthaers verwendet diese Skulptur als
Brückenkopf, um von hier aus den gesellschaftli-
chen Raum zu erobern. In der Folge entstanden
nicht nur weitere Objekte, sondern auch Bilder,
Zeichnungen, Graphiken, Bücher und Filme.
Die Graphik ist für Broodthaers das adäquate
Medium, sich auszudrücken, denn seine elemen-
taren Gestaltungsmittel sind Wort und Bild. Aller-
dings geschieht dies nicht im Sinne der herkömm-
ichen Originaldruckgraphik: die Blätter sind nicht
auf einer manuellen Presse in traditioneller Weise
gedruckt worden. Sie wurden maschinell im Sieb-,
Offset-, Buch- oder Photodruckverfahren hergestellt
Daher wirkten sie plakatähnlich, distanziert. Ge-
meinsam mit der Originalgraphik haben sie lediglich
Signatur, Datierung und Numerierung. Direkte, emo
tionelle Linienführung und spontanen Farbauftrag
gibt es nicht; die freie Gestaltung weicht kalkulier-
ten, klischeehaften Bild- und Textstrukturen.
Ausgangspunkt für die reflektierte Schaffensweise
war Broodthaers’ Begegnung mit dem belgischen
Surrealisten Rene Magritte (1898-1967) und insbe-
sondere dessen Bild «Der Sprachgebrauch» von
1928/29 (auch «Der Verrat der Bilder» genannt), das
3ine Pfeife darstellt, unter der geschrieben steht:
‘Ceci n’est pas une pipe.» Diese Negation weist dar
auf hin, dass Abgebildetes und Abbild zwei ver-
schiedenen Realitätsebenen angehören und daher
nicht identisch sind. Das Abbild wird auf diese
Weise zum Zeichen (signifiant) erklärt, welches das
Abgebildete (signifie) in der Vorstellung des Be-
trachters wachruft. Der Widerspruch zwischen Bild
and Text ist daher nur scheinbar. Er will besagen:
dies ist keine Pfeife, sondern ein Kunstwerk. «Von
dieser Pfeife aus begann ich mein Abenteuen,
sagte Broodthaers später in einem Interview.! Die-
zes Abenteuer führte ihn einen wesentlichen Schriti
über Magritte hinaus. Konnte seit Duchamp jeder
Deliebige Gegenstand als Kunstwerk definiert, das
heisst der Begriff von Realität mit demjenigen von
Kunst zusammengebracht werden, so findet
Broodthaers seinerseits eine eigene, neue Defini-
tion: «Dies ist kein Kunstwerk), lautet eine Inschrift
auf Schildern aus Kunststoff, die Broodthaers in
drei Sprachen den Exponaten seiner Ausstellung
von 1972 in Düsseldorf beifügte. Broodthaers ver-
jieh dadurch den Werken wiederum dinghaften
Charakter, eine reale Funktion und damit eine ganz
bestimmte, eine soziologische Realität. Gerade