Full text: Jahresbericht 1982 (1982)

DIE DRUCKGRAPHIK 
VON MARCEL BROODTHAERS 
Das Kunsthaus Zürich konnte für seine Graphische 
Sammlung die gesamte Druckgraphik von Marcel 
Broodthaers (1924-1976) dank einem Geschenk des 
Migros-Genossenschaftsbundes erwerben. Es sind 
25 Editionen aus den Jahren 1964 bis 1975, die 
ausser druckgraphischen Blättern unter anderem 
auch eine bedruckte Photoleinwand, einen Film 
sowie eine klare Glasflasche mit dem Titel «Le 
manuscrit trouve dans une bouteille» umfassen. 
Der in Brüssel geborene Broodthaers war als Dich- 
ter, Schriftsteller und Journalist tätig, bevor er 1964 
beschloss, sich fortan der bildenden Kunst zu 
widmen. Er vollzog diesen Schritt mit seinem 
Gedichtband «Pense-Bäte», indem er ein Paket von 
fünfzig dieser Bände unten in entsprechend 
geformten Gips stellte und das Paketpapier oben 
gleichzeitig so weit entfernte, dass man die Buch- 
ränder sehen konnte. Auf diese Weise gestaltete er 
das Ganze zu einer Skulptur um. Das Objekt 
verkörpert ein Leseverbot: es war nicht möglich, die 
Bücher aufzuschlagen und die Gedichte zu lesen, 
ohne den plastischen Aspekt des Werkes zu verän- 
dern oder zu zerstören. Zu Broodthaers’ Erstaunen 
irritierte dies aber niemanden; das Objekt wurde 
vielmehr als künstlerischer Ausdruck oder als Kurio- 
sität verstanden. Hatte Broodthaers nach seinen 
eigenen Worten bisher für ein fiktives Publikum ge- 
arbeitet, so begann er dieses nun als Realität in sein 
Schaffen einzubeziehen: <... mein Publikum war 
fiktiv. Plötzlich wurde es auf jener Ebene real, wo es 
um die Frage des Raumes und der Eroberung 
geht.»! Broodthaers verwendet diese Skulptur als 
Brückenkopf, um von hier aus den gesellschaftli- 
chen Raum zu erobern. In der Folge entstanden 
nicht nur weitere Objekte, sondern auch Bilder, 
Zeichnungen, Graphiken, Bücher und Filme. 
Die Graphik ist für Broodthaers das adäquate 
Medium, sich auszudrücken, denn seine elemen- 
taren Gestaltungsmittel sind Wort und Bild. Aller- 
dings geschieht dies nicht im Sinne der herkömm- 
ichen Originaldruckgraphik: die Blätter sind nicht 
auf einer manuellen Presse in traditioneller Weise 
gedruckt worden. Sie wurden maschinell im Sieb-, 
Offset-, Buch- oder Photodruckverfahren hergestellt 
Daher wirkten sie plakatähnlich, distanziert. Ge- 
meinsam mit der Originalgraphik haben sie lediglich 
Signatur, Datierung und Numerierung. Direkte, emo 
tionelle Linienführung und spontanen Farbauftrag 
gibt es nicht; die freie Gestaltung weicht kalkulier- 
ten, klischeehaften Bild- und Textstrukturen. 
Ausgangspunkt für die reflektierte Schaffensweise 
war Broodthaers’ Begegnung mit dem belgischen 
Surrealisten Rene Magritte (1898-1967) und insbe- 
sondere dessen Bild «Der Sprachgebrauch» von 
1928/29 (auch «Der Verrat der Bilder» genannt), das 
3ine Pfeife darstellt, unter der geschrieben steht: 
‘Ceci n’est pas une pipe.» Diese Negation weist dar 
auf hin, dass Abgebildetes und Abbild zwei ver- 
schiedenen Realitätsebenen angehören und daher 
nicht identisch sind. Das Abbild wird auf diese 
Weise zum Zeichen (signifiant) erklärt, welches das 
Abgebildete (signifie) in der Vorstellung des Be- 
trachters wachruft. Der Widerspruch zwischen Bild 
and Text ist daher nur scheinbar. Er will besagen: 
dies ist keine Pfeife, sondern ein Kunstwerk. «Von 
dieser Pfeife aus begann ich mein Abenteuen, 
sagte Broodthaers später in einem Interview.! Die- 
zes Abenteuer führte ihn einen wesentlichen Schriti 
über Magritte hinaus. Konnte seit Duchamp jeder 
Deliebige Gegenstand als Kunstwerk definiert, das 
heisst der Begriff von Realität mit demjenigen von 
Kunst zusammengebracht werden, so findet 
Broodthaers seinerseits eine eigene, neue Defini- 
tion: «Dies ist kein Kunstwerk), lautet eine Inschrift 
auf Schildern aus Kunststoff, die Broodthaers in 
drei Sprachen den Exponaten seiner Ausstellung 
von 1972 in Düsseldorf beifügte. Broodthaers ver- 
jieh dadurch den Werken wiederum dinghaften 
Charakter, eine reale Funktion und damit eine ganz 
bestimmte, eine soziologische Realität. Gerade
	        
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