Full text: Jahresbericht 1982 (1982)

diert? Die Automarken, die Broodthaers seiner 
Gegenwart entnahm, sind nämlich auf beiden Blät- 
tern die gleichen. 
Das Auseinanderklaffen von Gegenwart und Ver- 
gangenheit ruft paradoxerweise auch etwas ins 
Bild, das man in Broodthaers’ logischen Gedan- 
kenstrukturen überhaupt nicht erwartet hätte: ein 
romantisches Element. Bilder aus einer vergange- 
nen Zeit wie die Kühe in «Les Animaux de la Ferme» 
oder die Fischfangszenen in «Citron-Citroen», die mit 
Broodthaers’ Zusatz «Re&clame pour la Mer du Nord: 
Werbecharakter haben, wirken durch ihren Gegen- 
wartsbezug im Text nostalgisch. «Ich weiss, mein 
Standpunkt ist romantisch, aber ich kann es nicht 
ändern)>,3 konstatiert Broodthaers in bezug auf sein 
imaginäres Museum für Moderne Kunst. 
Gegensätzlichkeiten auf reproduktionstechnischer 
formaler, inhaltlicher, zeitlicher und auf gewissen 
Blättern (zum Beispiel in «Chere Petite Sceun von 
1972 oder in «Lettre ouverte» von 1973) auch auf 
räumlicher Ebene prägen in dialektischer Weise 
Broodthaers’ gesamtes druckgraphisches Werk. 
«Die einzige Möglichkeit für mich, ein Künstler zu 
sein, ist vielleicht, ein Lügner zu sein, weil auch alle 
Wirtschaftsprodukte, der Handel, die Kommunika- 
tion Lügen sind»,* sagt Broodthaers 1972 in einem 
Gespräch mit Johannes Cladders in bezug auf sein 
imaginäres «Musege d’Art Moderne, Departement 
des Aigles». Doch im gleichen Gespräch findet sick 
auch folgender Ausspruch Broodthaers’: «Es gibt 
die Wahrheit der Lüge. Sie bestimmt mein Be- 
wusstsein.»* Diese Haltung äussert sich in seiner 
Druckgraphik formal im gleichzeitigen Verwenden 
von Weiss und Schwarz, Positiv und Negativ, im 
Schreiben und Durchstreichen. Inhaltlich erkennt 
man sie beispielsweise auf den Blättern «Das Recht: 
von 1972, das ausschliesslich aus Verboten (Nicht 
Rauchen) besteht. Solche Widersprüche sind sozu- 
sagen die Fixpunkte in Broodthaers’ enzyklopädie- 
artigem Bezugssystem, während die «Dinge» aus- 
tauschbar sind. Das System seiner fiktiven, soziolo- 
gischen Realität ist nach allen Seiten offen, entwick: 
lungs- und erweiterungsfähig - ein logisches Denk- 
system, in dem sich aber auch Raum findet für poli- 
tische, romantische und poetische Momente. Da die 
druckgraphischen Blätter allesamt - im Gegensatz 
zu etwaigen Rekonstruktionen seiner Ausstellungen 
- direkt auf Broodthaers selbst zurückgehen, sind 
sie als geschlossenes (Euvre von ganz besonderer 
Bedeutung, denn in ihrer Vielfalt findet sich 
Broodthaers’ gesamtes Schaffen gespiegelt. 
Margrit Bachofen-Moseı 
ANMERKUNGEN 
aus «Dix Mille Francs de Recompense,», Interview von Irmeline 
Lebeer, in: Marcel Broodthaers, Catalogue, Societe des Expo- 
sitions du Palais des Beaux-Arts, Bruxelles, du 27-9-1974 au 
3-11-1974. 
Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner tech- 
nischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt, 1970, S. 13. 
aus Aufzeichnungen von Marcel Broodthaers im Zusammen 
hang mit den verschiedenen Abteilungen des «Departement 
des Aigles», Museum für Moderne Kunst im Hinblick auf die 
Documenta in Kassel, 1972. 
Gespräch von Marcel Broodthaers mit Johannes Cladders ir 
Januar 1972, aufgeschrieben von J.C. im Mai 1972, zitiert in 
Poetische Aufklärung in der europäischen Kunst der Gegen- 
wart, Zürich, 1978/79.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.