Full text: Jahresbericht 1983 (1983)

ALBERTO GIACOMETTI 
«FEMME;, 1927/28 
1928 stellte Alberto Giacometti in der Pariser 
Galerie Jeanne Bucher eine Gruppe von Skulpturen 
aus, die ihn in Avant-Garde-Kreisen über Nacht ins 
Zentrum des Interesses rückte. Der Vater, Giovanni 
Giacometti, notierte in einem Brief an seinen Sohn 
Bruno: «Alberto schreibt mir heute sehr befriedigt 
über seine Ausstellung. Einer der ersten, der zur 
Eröffnung kam, war Picasso.) ! 
Das Hauptwerk dieser Ausstellung ist die in ausser- 
gewöhnlich langer Schaffenszeit entstandene und in 
verschiedenen Varianten bekannte «T&te qui 
regarde»2, frühestes vollgültiges Werk der später 
unter dem Namen Scheibenplastiken bekannten 
Werkreihe von 1927/28. Teil dieser Serie sind zwei 
«Femme»3 genannte Plastiken, die deutlich als 
Ganzfiguren konzipiert sind, was bei der von der 
Alberto Giacometti-Stiftung erworbenen Fassung* 
durch zarte Flächenmodulierung angedeutet wird; 
das Prinzip der flachen Form hat Giacometti aller- 
dings am Motiv des Kopfes entwickelt. 
Ausgangspunkt dieser Entwicklung war zweifellos 
die Erfahrung der Arbeit vor dem Modell innerhalb 
Antoine Bourdelles Unterricht an der Academie de 
la Grande Chaumiere. Wiederholt hat sich 
Giacometti über die dort herrschenden für ihn 
ungünstigen Raumverhältnisse beklagt. («Entweder 
sah ich das Volumen, oder ich sah das Ganze»).5 
Schon damals hat Giacometti gespürt - was für ihn 
später noch weit bedeutungsvollere Konsequenz 
haben sollte -, dass eine Form aus einer gewissen 
Distanz gesehen Volumen und Dreidimensionalität 
zugunsten von einer mehr oder weniger flachen 
Ansichtsseite aufzugeben scheint. Diese Erkenntnis 
wird zuerst in einer Serie von Portraitköpfen wirk- 
sam, ein erstes Mal im vergleichsweise wirklich- 
keitsnah gehaltenen «Portrait de la mere de l’artiste) 
19276, Da sämtliche Einzelformen des Gesichtes 
reliefartig und somit als volumenhaltige Form 
behandelt sind, wirkt die ganze Plastik trotz geringe 
Tiefendimension durchaus körperhaft. Im gleichen 
Jahr 1927 modelliert Albert Giacometti zudem zwe! 
Portraitköpfe nach seinem Vater.? Während die 
erste Fassung einer Stilstufe entspricht, die deutlick 
vor derjenigen liegt, die im Portrait der Mutter 
erreicht wird, führt der Künstler in der zweiten 
Version neue Charakterisierungsmöglichkeiten ein 
Innerhalb einer gestrafften Kopfform wird das 
Gesichtsfeld als Segmentfläche angeschnitten und 
durch das nicht volumenhaltige Mittel der Zeich- 
nung gegliedert. Aus der ursprünglichen Einheit der 
Mittel zur Festlegung einer plastischen Form ist eine 
Dualität geworden: die volumenhaltige, das heisst 
dreidimensionale Form und die zweidimensionale 
Flächenfixierung der Zeichnung. 
Ein weiterer Portraitkopf, die zweite Version des 
Bildnisses Josef Müller®8, gibt sich als möglicher- 
weise noch folgenreichere Vorstufe zu den 
Scheibenplastiken zu erkennen. Treffend bemerkt 
Reinhold Hohl: «Die zweite, sehr flache Fassung de! 
Büste Josef Müllers trägt auf der Stirn ein ein- 
geritztes Achsenkreuz: Es ist das traditionelle Mitte 
der Zeichner seit der Renaissance, bei der skizzen- 
haften Anlage einer Figur anzugeben, dass der 
Körper als gerundetes Volumen aufzufassen sel. 
Nun hat der Bildhauer aus dem Mittel des 
Zeichners, Körperplastik darzustellen, ein Mittel der 
Plastik gemacht, um diese einer entfernten flachen 
Erscheinung anzugleichen.)? 
Auch wenn dieses Werk, nicht zuletzt auch seiner 
geometrisierend gerundeten Umrissform wegen, als 
unmittelbarste Vorstufe zu den eigentlichen 
Scheibenplastiken zu benennen ist, muss doch der 
gewaltige Schritt, der vollzogen werden musste, un 
zu <T&te qui regarde) zu gelangen, noch stärker her 
vorgehoben werden. Wichtigste Grundvorausset- 
zung ist wohl die Bereitschaft des Künstlers, die 
Arbeit nach dem Vorbild aus dem Bereich der 
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