Full text: Jahresbericht 1983 (1983)

sichtbaren Wirklichkeit, im Fall der Köpfe auch die 
Suche nach individualisierender Portraithaftigkeit 
'im Fall der 2. Version des Josef Müller-Portraits ein 
affensichtlich nicht mehr vollgültig zu lösendes 
Problem) aufzugeben, um nach einer inneren, 
maginativen und nicht durch das Geschaute kon- 
rollierten Idealvorstellung zu schaffen. Natürlich 
hängt die Absage an die Arbeit vor dem Modell 
und die damit verbundene Zuwendung an die 
magination mit der Theorie der «Ecriture auto- 
matique) der Surrealisten zusammen, in deren Kreis 
Z3iacometti in den späteren zwanziger Jahren zu 
verkehren begann. Die lange Entstehungszeit von 
'Tete qui regarde», der ganze Winter 1927/28, 
deutet jedoch an, dass Giacometti dieser Schritt 
aicht leicht gefallen ist. Wenn er später, das heisst 
1934, kurz bevor er sich in einer schmerzhaften 
Schaffenskrise wieder der Arbeit vor dem Modell 
zuwandte, sagen konnte «In diesen Jahren habe ich 
aur Skulpturen ausgeführt, die ich fertig vor Augen 
gehabt habe. Ich habe mich darauf beschränkt, sie 
räumlich auszuführen, ohne etwas an ihnen zu 
ändern, ohne mich selbst zu fragen, was sie 
voedeuten könnten...>, SO gilt dies zweifellos noch 
nicht für die ersten Scheibenplastiken, obwohl diese 
die Gruppe der surrealistischen Plastiken einleiten. 
die zwischen 1927 und 1933 geschaffen wurden 
Jnd auf die sich die soeben zitierte Aussage 
bezieht. Auffallendes Merkmal sowohl der Köpfe 
wie auch der Ganzfiguren ist die dem Rechteck 
angenäherte Umrissform; besonders einsichtig bei 
den Figuren wird von Giacometti erstmals in sein 
Schaffen ein Gestaltungsmittel eingeführt, das seit 
dem Kubismus Anwendung gefunden hat: das Aus 
einandergehen von dargestelltem Gegenstand und 
dessen konturierender Umreissung. Giacometti hat 
sich mit Kubismus auseinandergesetzt, wobei bei 
hm allerdings nicht von einer kubistischen Phase 
gesprochen werden kann, da sich die von formalen 
Jberlegungen diktierten kubistischen Deformatio- 
nen stets mit den imaginativ bedingten Abweichun- 
gen von der äusseren Wirklichkeit im Sinne des 
Surrealismus überlagern. 19 
Es ist wiederholt betont worden, dass Giacometti 
bei der Findung seiner eigenen surrealen Formen- 
sprache weniger von zeitgenössischen Recherchen 
als von Werken vergangener und aussereuropä- 
ischer Kulturen angeregt worden ist: die Kunst 
Schwarzafrikas hat zweifellos ein Werk wie «Femme 
cuiller», 1926,11 geprägt; die Scheibenplastiken 
wurden von Christian Zervos bereits 1929 mit der 
Zykladenkunst in Verbindung gebracht. !2 
Die Neuerwerbung der Giacometti-Stiftung ist 
beiden Kulturkreisen gleichermassen verpflichtet; 
dadurch, dass vom monumentalen Standbild 
(«Femme cuiller» die Hohlform der Unterleibspartie 
übernommen wird, gerät unsere Plastik gleicher- 
massen in den Bereich des primitiven Kulturbildes. 
Die streng axialsymmetrische Anlage der Plastik, 
aber auch die Interdependenz verwandter Formen 
'etwa Kopf, Brüste und Unterleib) bestärken den 
meditativen, fast ikonenhaften Idolcharakter. Weil 
alle reliefartigen Einzelformen sowie auch die zeich: 
nerischen Elemente wie Haare und Arme nur 
angedeutet und nicht in harter Ausprägung von der 
umgebenden Partien ausgeschieden werden, wird 
die ganze Oberfläche in eine zart schwellende 
Bewegung versetzt. Diese mehr annähernde, skiz- 
zierende Formgebung rückt die Plastik in unmittel- 
bare Nähe zur ersten Fassung von <T&te qui 
regarde>». Die zunehmende Formverfestigung, die 
bei den Scheibenplastiken festzustellen ist (etwa irr 
Sinne der Entwicklung von «T&te qui regarde». Inv 
Nr.G - S 10 der Alberto Giacometti-Stiftung zu 
«Femme» 1928, Inv. Nr.G - S 13) legt nahe, dass 
unsere Neuerwerbung vor der bereits erwähnten 
Figur «Femme» 13 entstanden ist. 
Nicht erst während der produktiven Schaffens- 
oeriode der Nachkriegsjahre war Giacometti der 
ewig Suchende, der mit dem Erreichten nie zufrie- 
den war. Das innovative Resultat der ersten 
Scheibenplastiken hat ihn offenbar nicht befriedigt. 
1928 schrieb er: «Endlich konnte ich mich ent- 
schliessen —- um zu etwas Geld zu kommen - zwei
	        
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