ZU DEN ZEICHNUNGEN VON MARTIN DISLER
Ich bin vistonenjäger, im zeichnen habe ich mein
eben als maler erfunden. ich würde eher ins papier
Jeissen als aufhören zu zeichnen.»!
Meine erste Begegnung mit Martin Disler datiert
aus dem Jahr 1976. Der Anlass war seine Reise in
die USA zusammen mit Rolf Winnewisser, die wir
mit einer sogenannten «Subskription» unterstützen
sollten: die beiden Künstler wollten uns dafür ein
Reise-Tagebuch mit nach Hause bringen. Während
der dreimonatigen Reise erhielten wir immer wieder
Briefe mit kleinen Skizzen und Gedichten und nach
Ihrer Rückkehr ein staunenswertes Wunderbüchlein
mit zahlreichen Aquarellen, Photos und Texten.
Seitdem verfolgte ich Dislers Arbeit. Nachdem wir
in den letzten Jahren einzelne Zeichnungen und
Druckgraphik gekauft hatten, erwarben wir 1983
eine grössere Zeichnungsgruppe.
Dislers Zeichnungen entstehen nie einzeln; wenn er
zu zeichnen beginnt, macht er Hunderte von
Zeichnungen hintereinander, tagelang, nächtelang,
wie in einem Rausch. Die intensive Ausstrahlung
dieser Blätter enthält Zartes und Poetisches, aber
auch Gewaltsames und Bedrohliches. Auf den
ersten Blick ist wenig zu entziffern, und man muss
sich in das anscheinend Chaotische und Formlose
erst einsehen, um nach und nach figürliche Ele-
mente zu entdecken, die einem auf die Spur helfen:
einen Kopf, ein Gesicht, Hände, Arme, Beine, eine
Schlange, ein Tiermaul... Diese Elemente sind aber
in so ungewohnter Weise ineinander verflochten
und mit anderen Zeichen vermischt, dass eine
Deutung oft schwerfällt. Die Überlagerung der
figurativen Formen hat sich in der letzten Zeit zu-
nehmend verstärkt, wodurch die Blätter auch eine
gesteigerte Tiefenwirkung bekommen haben. Früher
lebten Dislers Zeichnungen mehr von dem zeichen-
haften Vokabular, das er sich in seinen zahlreichen
Büchern erarbeitet hatte und das er in verschie-
denen Zusammenstellungen wie Hieroglyphen ver-
wenden konnte. In seiner Ausstellung im Museum
der Stadt Solothurn 1976 führte er diese Zeichen.
ins Monumentale transponiert, auf wandgrossen
Plasticfolien unter dem Titel «Das Vokabular) vor.
zrschwert wird die Lesbarkeit von Dislers Arbeiter
dadurch, dass sein Werk nicht nach formalästhe-
tischen Kriterien beurteilt sein will. Seine Absicht
war von Beginn an, eine nicht abgeleitete Formen-
sprache zu finden, eine gegenüber der akademi-
schen Tradition «falsche» Sprache, die aber gerade
dadurch in der Lage war, neue Inhalte zu vermitteln
ilch will alles falsch malen und zeichnen, die uner-
wartete Linie und die unerträglich erwartete Linie;
so bin ich sicher, dass diese von mir sind und nicht
vom grossen Raster.»2 Das bedeutet allerdings
nicht, dass Disler ausserhalb jeglicher Tradition
steht. Es lassen sich unter anderem Anregungen
durch Beckmann, Picasso, Goya, Klee, Kandinsky
und Nolde feststellen, aber Disler hat sie sich derarı
einverleibt, dass sie zu seiner ganz eigenen, unver-
wechselbaren Sprache geworden sind.
In seinen Bildern formuliert er nicht nur seine
Reaktionen auf persönliche Erfahrungen, sondern
verknüpft diese mit Kindheitserlebnissen und unbe-
wussten Inhalten. «Ich bin auf der Reise in die Tiefe
und Erinnerung. Diese führt an den Haselsträuchern.,
Heustöcken, Hügeln und Höhlen der Kindheit vor-
über, lässt mich Bannzeichen gegen alle je ausge-
standenen Ängste entwerfen und Zeichen für meine
Träume.»3 Wenn er in seinem «rauschhaften Ar-
beiten, das bei ihm aus dem Körper heraus ge-
schieht, Hunderte von Zeichnungen hintereinander
produziert, lässt er alles «nach oben» kommen und
sichtet es erst hinterher. Er arbeitet dann wie unter
einem Zwang, bekommt etwas Atemloses, Gehetz:
tes: «Zeichnen ist immer meine Waffe gegen das
Endenwollen, gegen das Versiegen...>* Die Angst
vor dem «Versiegen» kommt deutlich in dem Gleich-
nis vom Maler in der Höhle zum Ausdruck, das
Disler am Ende seines Buches «Bilder vom Malen
erzählt. Dort vergisst der Maler in einem Augenblick
des Schreckens und des Schmerzes weiterzumalen.
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