«Er vergass, Wunschbilder durch den Kopf zu jagen.
Da versiegte die Farbe, die Jahrelang von den Wän-
den geflossen war, sie trocknete Ein. Die Pinsel blie-
ben kleben. „O weh, o weh”, rief der Maler. Er
wusste, dass es vorbei war. Denn das ungeschrie-
bene Malergesetz wollte, dass die Farbe ohne
Unterbruch für die Bilder eingesetzt würde, sonst
versiegte sie.»®
In den Zeichnungen fällt auf, dass selten ein ganzer
Körper wiedergegeben ist, sondern der Mensch
immer nur in Teilen, in Fragmenten erscheint: Kopf,
Arm, Hand, Brüste, Vagina, Penis, Beinansätze. Die
Körperfragmente können - ähnlich wie die früheren
Zeichensymbole - in immer neuen Kombinationen
erscheinen und dementsprechend ganz verschie-
dene Bedeutungszusammenhänge herstellen. Sie
bilden‘ infolgedessen ein offenes System, innerhalb
dessen auch bestimmte Glieder austauschbar sind:
eine Form, die beispielsweise in einem Blatt einen
Arm mit Faust darstellt, kann in einem anderen ein
Schlangenleib mit Kopf oder ein Penis sein. Der
Kopf ist in unseren Zeichnungen der wichtigste
Ausdrucksträger. An ihm manifestieren sich deut-
lich Bedrohungssituationen. Er ist oft isoliert, aber
selten unbeschwert dargestellt. Häufig lasten auf
ihm Dinge, die im Kopf entstehen, die aus seiner
Vorstellung <«herauswachsen) (Abb. 12). Oder es
sind Dinge, die sich vor das Gesicht legen, zum Bei:
spiel eine Hand, die es umkrallt, wie in der Zeich-
nung Abb. 12, wo diese von links oben in das Bild
hineinfährt. Das Greifen der Finger erinnert an das
kolossale Wandbild in der Stuttgarter Ausstellung
«Die Umgebung der Liebe», in dem eine aggressive
Frauenhand einen vom Rumpf abgerissenen bluten-
den Männerkopf gefasst hält.® Hier scheint die
Geschichte von «Judith und Holofernes» anzuklin-
gen. In vielen Bildern wird spürbar, wie sehr die
Berührung des anderen zur Verwundung werden
kann. Die Sehnsucht nach dem Einswerden mit
dem Partner kann zur gefährlichen Verletzung füh-
ren. Oft werden die Augen überdeckt, der Maler
wird «blind» gemacht. Das, was als Grausamkeit, als
das Schrecklichste für einen Maler anmutet, kann
aber auch bedeuten, dass damit das «innere» Auge
die Erfindungsgabe, geöffnet wird. In seinem Buch
«Bilder vom Malern erzählt Disler eine Geschichte
vom Maler, der mit den Augen voran in Essig
gefallen ist. «Er sieht nicht mehr, ist blind, sitzt im
Rollstuhl, geht an einem Stock. „Liebste”, fragt mich
der Maler, „kannst Du nicht meine Bilder malen?” —
Du wirst mir erzählen, was unter Deinen Händen
entsteht an Bildern... Ich werde versuchen, sie mir
vorzustellen, und ich werde deshalb nur zum Schein
blind sein.» Sie malt an seiner Stelle, er ist glücklich
und sagt, «er habe noch nie so schöne Bilder gese-
henm».7 Die Vorstellung, dass man für einen anderen
Menschen malt, ist eng mit dem Werk von Disler
verbunden. Er bringt sie auch in dem Gleichnis vom
Maler zum Ausdruck, der in einem Stadion vor Tau
senden von Zuschauern arbeitet, die ihm alle ihre
Wünsche mitteilen. «Der Maler ist mit dem Pinsel
über die Malfläche gerannt. Er malte fünf Stunden
lang. Er malte die gesammelte Angst der Zu-
schauer. Er malte auch die gesammelte Sehnsucht
der Zuschauer... Die Sehnsucht umnebelte den
Maler. Die Angst der Millionen erhellte das Sta-
dion.»8 Am Schluss bleibt er ermattet an den Farber
«leben und kann sich nicht mehr daraus erheben.
Disler findet damit eine beredte Metapher für die
zrfahrung, dass der Maler nicht nur seine eigene
Angst durch das Schaffen auffängt, sondern auch
das Werkzeug, das Medium für die Angst der ande
ren wird. Ursula Perucchi-Petri
Anmerkungen:
! Martin Disler: Drawings, Galerie Eric Franck, Geneve, 1982,
? Martin Disler: Invasion durch eine falsche Sprache, Kunsthalle
Basel, 1980, S. 6.
} Katalog «11 Solothurner Künstlern, Galerie Arte Arena, Düben-
dorf, und Kunstmuseum Olten, 1974.
' Martin Disler: Drawings, Galerie Eric Franck, Geneve, 1982.
> Martin Disler: Bilder vom Maler, Dudweiler: AQ-Verlag, 1980.
5.136f.
5 Martin Disler: Die Umgebung der Liebe. Württembergischer
Kunstverein, Stuttgart, 1981.
7 Martin Disler: Bilder vom Maler, S. 63.
8 Martin Disler: Bilder vom Maler, Klappentext.