Full text: Jahresbericht 1983 (1983)

«Er vergass, Wunschbilder durch den Kopf zu jagen. 
Da versiegte die Farbe, die Jahrelang von den Wän- 
den geflossen war, sie trocknete Ein. Die Pinsel blie- 
ben kleben. „O weh, o weh”, rief der Maler. Er 
wusste, dass es vorbei war. Denn das ungeschrie- 
bene Malergesetz wollte, dass die Farbe ohne 
Unterbruch für die Bilder eingesetzt würde, sonst 
versiegte sie.»® 
In den Zeichnungen fällt auf, dass selten ein ganzer 
Körper wiedergegeben ist, sondern der Mensch 
immer nur in Teilen, in Fragmenten erscheint: Kopf, 
Arm, Hand, Brüste, Vagina, Penis, Beinansätze. Die 
Körperfragmente können - ähnlich wie die früheren 
Zeichensymbole - in immer neuen Kombinationen 
erscheinen und dementsprechend ganz verschie- 
dene Bedeutungszusammenhänge herstellen. Sie 
bilden‘ infolgedessen ein offenes System, innerhalb 
dessen auch bestimmte Glieder austauschbar sind: 
eine Form, die beispielsweise in einem Blatt einen 
Arm mit Faust darstellt, kann in einem anderen ein 
Schlangenleib mit Kopf oder ein Penis sein. Der 
Kopf ist in unseren Zeichnungen der wichtigste 
Ausdrucksträger. An ihm manifestieren sich deut- 
lich Bedrohungssituationen. Er ist oft isoliert, aber 
selten unbeschwert dargestellt. Häufig lasten auf 
ihm Dinge, die im Kopf entstehen, die aus seiner 
Vorstellung <«herauswachsen) (Abb. 12). Oder es 
sind Dinge, die sich vor das Gesicht legen, zum Bei: 
spiel eine Hand, die es umkrallt, wie in der Zeich- 
nung Abb. 12, wo diese von links oben in das Bild 
hineinfährt. Das Greifen der Finger erinnert an das 
kolossale Wandbild in der Stuttgarter Ausstellung 
«Die Umgebung der Liebe», in dem eine aggressive 
Frauenhand einen vom Rumpf abgerissenen bluten- 
den Männerkopf gefasst hält.® Hier scheint die 
Geschichte von «Judith und Holofernes» anzuklin- 
gen. In vielen Bildern wird spürbar, wie sehr die 
Berührung des anderen zur Verwundung werden 
kann. Die Sehnsucht nach dem Einswerden mit 
dem Partner kann zur gefährlichen Verletzung füh- 
ren. Oft werden die Augen überdeckt, der Maler 
wird «blind» gemacht. Das, was als Grausamkeit, als 
das Schrecklichste für einen Maler anmutet, kann 
aber auch bedeuten, dass damit das «innere» Auge 
die Erfindungsgabe, geöffnet wird. In seinem Buch 
«Bilder vom Malern erzählt Disler eine Geschichte 
vom Maler, der mit den Augen voran in Essig 
gefallen ist. «Er sieht nicht mehr, ist blind, sitzt im 
Rollstuhl, geht an einem Stock. „Liebste”, fragt mich 
der Maler, „kannst Du nicht meine Bilder malen?” — 
Du wirst mir erzählen, was unter Deinen Händen 
entsteht an Bildern... Ich werde versuchen, sie mir 
vorzustellen, und ich werde deshalb nur zum Schein 
blind sein.» Sie malt an seiner Stelle, er ist glücklich 
und sagt, «er habe noch nie so schöne Bilder gese- 
henm».7 Die Vorstellung, dass man für einen anderen 
Menschen malt, ist eng mit dem Werk von Disler 
verbunden. Er bringt sie auch in dem Gleichnis vom 
Maler zum Ausdruck, der in einem Stadion vor Tau 
senden von Zuschauern arbeitet, die ihm alle ihre 
Wünsche mitteilen. «Der Maler ist mit dem Pinsel 
über die Malfläche gerannt. Er malte fünf Stunden 
lang. Er malte die gesammelte Angst der Zu- 
schauer. Er malte auch die gesammelte Sehnsucht 
der Zuschauer... Die Sehnsucht umnebelte den 
Maler. Die Angst der Millionen erhellte das Sta- 
dion.»8 Am Schluss bleibt er ermattet an den Farber 
«leben und kann sich nicht mehr daraus erheben. 
Disler findet damit eine beredte Metapher für die 
zrfahrung, dass der Maler nicht nur seine eigene 
Angst durch das Schaffen auffängt, sondern auch 
das Werkzeug, das Medium für die Angst der ande 
ren wird. Ursula Perucchi-Petri 
Anmerkungen: 
! Martin Disler: Drawings, Galerie Eric Franck, Geneve, 1982, 
? Martin Disler: Invasion durch eine falsche Sprache, Kunsthalle 
Basel, 1980, S. 6. 
} Katalog «11 Solothurner Künstlern, Galerie Arte Arena, Düben- 
dorf, und Kunstmuseum Olten, 1974. 
' Martin Disler: Drawings, Galerie Eric Franck, Geneve, 1982. 
> Martin Disler: Bilder vom Maler, Dudweiler: AQ-Verlag, 1980. 
5.136f. 
5 Martin Disler: Die Umgebung der Liebe. Württembergischer 
Kunstverein, Stuttgart, 1981. 
7 Martin Disler: Bilder vom Maler, S. 63. 
8 Martin Disler: Bilder vom Maler, Klappentext.
	        
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