Hinweis auf einige
Neuerwerbungen
MEISTERWERKE AUS DER SAMMLUNG
JOHANNA UND WALTER L. WOLF
Ernst Barlach: Der Flüchtling
Als Barlach 1906 nach langem Suchen in der gros-
sen Berliner Kunstausstellung seinen «Vertriebenen»
fand und sich ihm das Gefühl für die Nichtigkeit sei-
ner bisherigen Produktion schlagartig zu einer un-
umstösslichen Gewissheit verdichtete, hatte der
Sechsunddreissigjährige den äusseren und inneren
Tiefpunkt seines Lebens erreicht. Um ihn aus seiner
Lethargie zu reissen, nahm ihn sein Bruder zwei
Monate nach Russland mit, und hier ereignet sich in
wenigen Wochen, einer religiösen Bekehrung ver-
gleichbar, die Selbstfindung Barlachs in dem ihm
gemässen Stil.' In den damals entstandenen Zeich:
nungen verliert sich alsbald das dekorativ Jugend-
stilhafte, das fahrig Beliebige der früheren Blätter,
und eine neue sperrige Formensprache entsteht in
der Auseinandersetzung mit den schweren erdver-
hafteten, von den Differenzierungen der Zivilisation
kaum berührten Bauerngestalten und der endlos
weiten russischen Landschaft. Barlach hatte mit
dem Inhalt die Form gefunden; in einem Text aus
dem gleichen Jahr 1906 spricht er über das Verhält-
is der beiden Aspekte: Die Form sei notwendig und
das Primäre zur Vermittlung des Inhalts, dieser aber
das Wesentliche, das der Betrachter sucht.? Im Bild
des Schalentieres, dessen amorph weiches, leben-
des Gewebe sich ein totes, aber lebensnotwendiges,
überaus präzis geformtes Gehäuse absondert, findet
der Bildhauer-Dichter ein für ihn sehr bezeichnendes
Gleichnis. Dem antik-neuzeitlichen Primat des
menschlichen Körpers wird ein anderes Modell ent-
gegengesetzt, das ein erhellendes Licht auf seine
Formensprache und zugleich auf deren antithetische
Beziehung zum Jugendstil wirft.
Angesichts des Umbruchs von 1906 erscheint die
Entwicklung Barlachs bis zu seinem Tode 1938 als
gering; viele Figuren gehen auf Motive aus den
russischen Skizzenbüchern zurück, wo sich auch
bereits ein «Flüchtling» findet.3 Eine Zeichnung mit
zwei Fliehenden wird mitten im Kriege in eine Litho-
graphie umgesetzt;* die stärkste, objektivste Ge-
staltung erfährt das Thema aber nach Kriegsende in
der plastischen Einzelfigur (Abb. 8), ebenso wie
die angreifenden Männer, die «Bersekern um 1914 im
(‚Ekstatiker» und dem <«Rächen ihre definitive Ausprä
gung erhalten. Barlach strebt in seinen Skulpturen
nach einer möglichst allgemein gültigen, gewisser-
massen objektiven Ausdrucksform elementarer
menschlicher Befindlichkeiten und steht damit in der
grossen, ins alte Griechenland zurückreichenden
Tradition europäischer Plastik. Das spezifisch
Expressionistische besteht dabei anders als etwa bei
Kirchner nicht in der unmittelbar subjektiven Schöp-
fung, sondern in der völligen Hingabe der Figuren an
ihren beherrschenden Affekt: Der <«Ekstatiker), ist
kein religiös transzendent Verzückter, sondern seine
ganze Person konzentriert sich bis zur Selbstver-
gessenheit auf die in der Haltung ausgedrückte
Spannunag.®
In der Einheit von physischer und psychologischer
Bewegung markiert der «Flüchtling» den extremen
Dunkt im Werke Barlachs. Betrachtet man nur den
streng gespannten Umriss, das scharf stilisierte
Gewand, werden Erinnerungen an die dynamischen
Parabeln und die spitzwinklig zielenden Dreiecke der
Futuristen wach. Doch die organische Schwere des
Holzblockes überwindet deren technoide Abstrak-
tion, und die «Schale» birgt als eine Form, die sich
selbst in überstürzter Hast vorwärts zu schleudern
scheint, den seelischen Kern, das Gesicht, die um
das gerettete Bündel geklammerten Hände.
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