Full text: Jahresbericht 1984 (1984)

Hinweis auf einige 
Neuerwerbungen 
MEISTERWERKE AUS DER SAMMLUNG 
JOHANNA UND WALTER L. WOLF 
Ernst Barlach: Der Flüchtling 
Als Barlach 1906 nach langem Suchen in der gros- 
sen Berliner Kunstausstellung seinen «Vertriebenen» 
fand und sich ihm das Gefühl für die Nichtigkeit sei- 
ner bisherigen Produktion schlagartig zu einer un- 
umstösslichen Gewissheit verdichtete, hatte der 
Sechsunddreissigjährige den äusseren und inneren 
Tiefpunkt seines Lebens erreicht. Um ihn aus seiner 
Lethargie zu reissen, nahm ihn sein Bruder zwei 
Monate nach Russland mit, und hier ereignet sich in 
wenigen Wochen, einer religiösen Bekehrung ver- 
gleichbar, die Selbstfindung Barlachs in dem ihm 
gemässen Stil.' In den damals entstandenen Zeich: 
nungen verliert sich alsbald das dekorativ Jugend- 
stilhafte, das fahrig Beliebige der früheren Blätter, 
und eine neue sperrige Formensprache entsteht in 
der Auseinandersetzung mit den schweren erdver- 
hafteten, von den Differenzierungen der Zivilisation 
kaum berührten Bauerngestalten und der endlos 
weiten russischen Landschaft. Barlach hatte mit 
dem Inhalt die Form gefunden; in einem Text aus 
dem gleichen Jahr 1906 spricht er über das Verhält- 
is der beiden Aspekte: Die Form sei notwendig und 
das Primäre zur Vermittlung des Inhalts, dieser aber 
das Wesentliche, das der Betrachter sucht.? Im Bild 
des Schalentieres, dessen amorph weiches, leben- 
des Gewebe sich ein totes, aber lebensnotwendiges, 
überaus präzis geformtes Gehäuse absondert, findet 
der Bildhauer-Dichter ein für ihn sehr bezeichnendes 
Gleichnis. Dem antik-neuzeitlichen Primat des 
menschlichen Körpers wird ein anderes Modell ent- 
gegengesetzt, das ein erhellendes Licht auf seine 
Formensprache und zugleich auf deren antithetische 
Beziehung zum Jugendstil wirft. 
Angesichts des Umbruchs von 1906 erscheint die 
Entwicklung Barlachs bis zu seinem Tode 1938 als 
gering; viele Figuren gehen auf Motive aus den 
russischen Skizzenbüchern zurück, wo sich auch 
bereits ein «Flüchtling» findet.3 Eine Zeichnung mit 
zwei Fliehenden wird mitten im Kriege in eine Litho- 
graphie umgesetzt;* die stärkste, objektivste Ge- 
staltung erfährt das Thema aber nach Kriegsende in 
der plastischen Einzelfigur (Abb. 8), ebenso wie 
die angreifenden Männer, die «Bersekern um 1914 im 
(‚Ekstatiker» und dem <«Rächen ihre definitive Ausprä 
gung erhalten. Barlach strebt in seinen Skulpturen 
nach einer möglichst allgemein gültigen, gewisser- 
massen objektiven Ausdrucksform elementarer 
menschlicher Befindlichkeiten und steht damit in der 
grossen, ins alte Griechenland zurückreichenden 
Tradition europäischer Plastik. Das spezifisch 
Expressionistische besteht dabei anders als etwa bei 
Kirchner nicht in der unmittelbar subjektiven Schöp- 
fung, sondern in der völligen Hingabe der Figuren an 
ihren beherrschenden Affekt: Der <«Ekstatiker), ist 
kein religiös transzendent Verzückter, sondern seine 
ganze Person konzentriert sich bis zur Selbstver- 
gessenheit auf die in der Haltung ausgedrückte 
Spannunag.® 
In der Einheit von physischer und psychologischer 
Bewegung markiert der «Flüchtling» den extremen 
Dunkt im Werke Barlachs. Betrachtet man nur den 
streng gespannten Umriss, das scharf stilisierte 
Gewand, werden Erinnerungen an die dynamischen 
Parabeln und die spitzwinklig zielenden Dreiecke der 
Futuristen wach. Doch die organische Schwere des 
Holzblockes überwindet deren technoide Abstrak- 
tion, und die «Schale» birgt als eine Form, die sich 
selbst in überstürzter Hast vorwärts zu schleudern 
scheint, den seelischen Kern, das Gesicht, die um 
das gerettete Bündel geklammerten Hände. 
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