Hinweis auf einige
Neuerwerbungen
SEGANTINIS <ALPWEIDEN;
Die Kunst Giovanni Segantinis (1858-1899) steht
merkwürdig isoliert neben den heute üblichen Vorstel-
‚ungen von der Entwicklung der Kunst gegen Ende
des 19. Jahrhunderts; die Hilflosigkeit der Handbücher
macht uns dies, beredt oder schweigend, klar. Italien,
bis ins 18. Jahrhundert in Europa künstlerisch führend.
scheint in der Malerei in völlige Provinzialität zurück-
gesunken zu sein; noch am ehesten werden die Flo-
rentiner Macchiaioli gewürdigt, liebenswürdige Intimi-
sten, halb biedermeierlich, halb impressionistisch, de-
ren ebenso hochstehende wie diskrete Malkultur die
Erziehung am grossen Erbe verrät und bereits Moran-
dis Askese vorausahnen lässt.
Doch solche friedliche bürgerliche Bilder sind fern von
Segantini: Auch wenn er uralt adliges Blut in seinen
Adern rollen fühlt, stammte er aus einfachsten ländli-
chen Verhältnissen und durchlebte eine schlimme
Kindheit. Eine trotzige Eigenständigkeit im Überlebens-
<ampf wuchs hier schon dem Knaben zu, die ihn spä-
ter zu einem entschiedenen Verächter der an der Mai-
änder Akademie gepflegten Salonmalerei werden
jess. Deren bald frömmlerische, bald frivole Tendenz
schärften ohne Zweifel auch sein höchst ausgepräg-
tes moralisches Bedürfnis nach Wahrhaftigkeit; sie
wurde sowohl für seine Lebensführung, seine Abwen-
dung von der Stadt als auch für seine alle leere Vir-
tuosität verabscheuende Malerei mit ihrer unendlich
fleissigen Hingabe an die Phänomene der Natur zum
tragenden Grund. Das Gefühl seiner völligen Eigen-
ständigkeit, das so sehr der spätromantischen Künst-
lerideologie entsprach und in seinen späteren Jahren
durch Nietzsche-Lektüre bestätigt wurde, liessen Ihn
auch glauben, dass er die Technik des Divisionismus,
die Zerlegung der Töne in ihre Grundfarben, nur auf
Grund eigener Erfahrung und Beobachtung alter Mei-
stergemälde erfunden habe. In der Abweisung dieses
angsten Berührungspunktes mit der französischen
Entwicklung sehen wir die Weigerung Segantinis, sich
in eine spezifische künstlerische Tradition zu stellen
und zugleich den Grund unserer Schwierigkeit, ihn für
unsere geschichtlichen Konstrukte zu vereinnahmen.
An sich bietet eine allgemeine geschichtliche Einord-
nung kaum grosse Probleme. Segantini gehört mit van
Gogh und Gauguin, Munch und Hodler, Ce&zanne und
Monet zu den Vollendern der grossen Landschaftstra-
dition des 19. Jahrhunderts, die mit den erhaben ro-
mnantischen Werken Caspar David Friedrichs und Wil-
jam Turners gewissermassen als eine neue, moderne
‚eligiöse Malerei einsetzte. In der Jahrhundertmitte
dominierte dann mit Courbet und Millet ein erdverhaf-
teter dunkeltoniger Realismus, in dem die Landschaft
vor allem als harter, schicksalsbeherrschender Le-
vensraum der Landarbeiter in ihrer Beschränktheit
und Würde erscheint. Während in Paris diese Sicht
von der impressionistischen des städtischen Ausflüg-
lers alsbald überdeckt wird, prägt sie den Holländer
van Gogh und noch dauerhafter Segantini: Ja, das Be-
sondere seiner Stellung innerhalb der genannten
Gruppe scheint bei aller symbolistischen und pan-
‘heistischen Steigerung geradezu in diesem Festhalten
an der Landschaft als Lebensraum zu liegen.
Für das Verständnis von Segantinis Absichten oder
Tendenzen sind in ihrer Widersprüchlichkeit bereits
die Themen seiner beiden ersten anspruchsvolleren
Zigurenkompositionen bezeichnend: Die eine zeigt
aine aggressiv lebensvolle Marktfrau hinter einer
veristisch gemalten Gemüseaufhäufung: ein enger Be-
zug zur Natur, hier in der Stadt als Stilleben, und zur
untersten Volksschicht, der sich Segantini selbst zu-
rechnet. Das andere Bild präsentiert einen nackten
aufgebahrten Helden unter seinen Waffen; die Be-