Full text: Jahresbericht 1985 (1985)

Hinweis auf einige 
Neuerwerbungen 
SEGANTINIS <ALPWEIDEN; 
Die Kunst Giovanni Segantinis (1858-1899) steht 
merkwürdig isoliert neben den heute üblichen Vorstel- 
‚ungen von der Entwicklung der Kunst gegen Ende 
des 19. Jahrhunderts; die Hilflosigkeit der Handbücher 
macht uns dies, beredt oder schweigend, klar. Italien, 
bis ins 18. Jahrhundert in Europa künstlerisch führend. 
scheint in der Malerei in völlige Provinzialität zurück- 
gesunken zu sein; noch am ehesten werden die Flo- 
rentiner Macchiaioli gewürdigt, liebenswürdige Intimi- 
sten, halb biedermeierlich, halb impressionistisch, de- 
ren ebenso hochstehende wie diskrete Malkultur die 
Erziehung am grossen Erbe verrät und bereits Moran- 
dis Askese vorausahnen lässt. 
Doch solche friedliche bürgerliche Bilder sind fern von 
Segantini: Auch wenn er uralt adliges Blut in seinen 
Adern rollen fühlt, stammte er aus einfachsten ländli- 
chen Verhältnissen und durchlebte eine schlimme 
Kindheit. Eine trotzige Eigenständigkeit im Überlebens- 
<ampf wuchs hier schon dem Knaben zu, die ihn spä- 
ter zu einem entschiedenen Verächter der an der Mai- 
änder Akademie gepflegten Salonmalerei werden 
jess. Deren bald frömmlerische, bald frivole Tendenz 
schärften ohne Zweifel auch sein höchst ausgepräg- 
tes moralisches Bedürfnis nach Wahrhaftigkeit; sie 
wurde sowohl für seine Lebensführung, seine Abwen- 
dung von der Stadt als auch für seine alle leere Vir- 
tuosität verabscheuende Malerei mit ihrer unendlich 
fleissigen Hingabe an die Phänomene der Natur zum 
tragenden Grund. Das Gefühl seiner völligen Eigen- 
ständigkeit, das so sehr der spätromantischen Künst- 
lerideologie entsprach und in seinen späteren Jahren 
durch Nietzsche-Lektüre bestätigt wurde, liessen Ihn 
auch glauben, dass er die Technik des Divisionismus, 
die Zerlegung der Töne in ihre Grundfarben, nur auf 
Grund eigener Erfahrung und Beobachtung alter Mei- 
stergemälde erfunden habe. In der Abweisung dieses 
angsten Berührungspunktes mit der französischen 
Entwicklung sehen wir die Weigerung Segantinis, sich 
in eine spezifische künstlerische Tradition zu stellen 
und zugleich den Grund unserer Schwierigkeit, ihn für 
unsere geschichtlichen Konstrukte zu vereinnahmen. 
An sich bietet eine allgemeine geschichtliche Einord- 
nung kaum grosse Probleme. Segantini gehört mit van 
Gogh und Gauguin, Munch und Hodler, Ce&zanne und 
Monet zu den Vollendern der grossen Landschaftstra- 
dition des 19. Jahrhunderts, die mit den erhaben ro- 
mnantischen Werken Caspar David Friedrichs und Wil- 
jam Turners gewissermassen als eine neue, moderne 
‚eligiöse Malerei einsetzte. In der Jahrhundertmitte 
dominierte dann mit Courbet und Millet ein erdverhaf- 
teter dunkeltoniger Realismus, in dem die Landschaft 
vor allem als harter, schicksalsbeherrschender Le- 
vensraum der Landarbeiter in ihrer Beschränktheit 
und Würde erscheint. Während in Paris diese Sicht 
von der impressionistischen des städtischen Ausflüg- 
lers alsbald überdeckt wird, prägt sie den Holländer 
van Gogh und noch dauerhafter Segantini: Ja, das Be- 
sondere seiner Stellung innerhalb der genannten 
Gruppe scheint bei aller symbolistischen und pan- 
‘heistischen Steigerung geradezu in diesem Festhalten 
an der Landschaft als Lebensraum zu liegen. 
Für das Verständnis von Segantinis Absichten oder 
Tendenzen sind in ihrer Widersprüchlichkeit bereits 
die Themen seiner beiden ersten anspruchsvolleren 
Zigurenkompositionen bezeichnend: Die eine zeigt 
aine aggressiv lebensvolle Marktfrau hinter einer 
veristisch gemalten Gemüseaufhäufung: ein enger Be- 
zug zur Natur, hier in der Stadt als Stilleben, und zur 
untersten Volksschicht, der sich Segantini selbst zu- 
rechnet. Das andere Bild präsentiert einen nackten 
aufgebahrten Helden unter seinen Waffen; die Be-
	        
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