Full text: Jahresbericht 1985 (1985)

WILHELM LEHMBRUCK 
(‚EMPORSTEIGENDER JÜNGLING. 
Seit vielen Jahren schon stand der «‚Emporsteigende 
Jüngling>» im grossen Saal mit den Gemälden Munchs, 
Kokoschkas und Beckmanns als Leihgabe der Familie 
des Künstlers, die sich Zürich und seinem Museum 
seit Lehmbrucks längerem Aufenthalt 1916-1918 ver- 
bunden fühlt und die durch ihr Entgegenkommen nun 
den Ankauf dieses Hauptwerkes der deutschen Skulp- 
tur unseres Jahrhunderts ermöglichte. Wie Segantinis 
(Alpweidem tritt der «Emporsteigende Jüngling» als 
Werk von herausragender Bedeutung in die Mitte von 
mehreren bereits vorhandenen Arbeiten des Künstlers 
die nun beispielhaft eine gültige Vorstellung über sein 
ganzes Schaffen ermöglichen. 
Lehmbruck (1881-1919) stammte aus der kinderrei- 
chen Familie eines Bergmanns bei Duisburg; die Ar- 
mut zwang zu kunstindustriellen Brotarbeiten, die 
durch die früh erkannte Begabung ermöglicht wurden. 
den Abschluss der Ausbildung an der Düsseldorfer 
Akademie aber bis 1908 verzögerte. Vielfältige Anre- 
gungen der Skulptur seit Rodin verarbeitete er in ver 
schiedenen, beachtlichen Werken; sie führten ihn zu 
einem klassisch vollendeten und harmonischen Figu- 
renstil. 1910 übersiedelte er nach Paris; hier schuf er 
mit der «Grossen Stehenden) das Hauptwerk dieser 
Richtung, das sich ebenbürtig neben die Skulpturen 
Maillols stellt. Erreichte er diese in der urtümlichen 
Kraft ihrer schwellenden Plastizität nicht, so übertraf 
er sie doch in der geistigen Durchdringung der Ge- 
stalt. Mit der «Büste Frau Lehmbruck;» (1910) und dem 
«Weiblichen Torso> (1910/11) ist diese erste vollgültige 
Phase des Werkes von Lehmbruck im Kunsthaus an- 
gemessen vertreten. 
Bewegte sich Lehmbruck bis dahin innerhalb der er- 
probten Formmöglichkeiten der Zeit, geschah nun ge- 
gen schwere innere Widerstände etwas ganz Uner- 
wartetes und Neuartiges: Die im folgenden Jahr ent- 
standene «Kniende» wendet sich in der expressiven 
Überlängerung ihrer Proportionen, in der geometri- 
schen Stilisierung von Gewand und Beinstellung von 
der klassisch in sich ruhenden Auffassung der 
menschlichen Gestalt völlig ab. Ob er erst in Paris 
spürte, dass ihm diese mediterrane Welt doch letztlich 
fremd war? Oder gelangte er zur Überzeugung, dass 
eine solche innere Harmonie von Ideal und Natur und 
die entsprechende Vorstellung von Mensch und Welt 
nicht mehr zeitgemäss sei? Oder schien ihm künstle- 
risch ein Weiterschreiten in der alten Richtung unter 
dem Eindruck der neuesten Strömungen - etwa des 
Kubismus oder Matisse’ - unmöglich? Bei der Über- 
windung des alten Stils half ihm die Erinnerung an die 
‘Knienden Knaben» von George Minne; mehr noch als 
die motivische Ähnlichkeit weist auf sie die stilisierte 
Schlankheit der Glieder und das letztlich auf den Ju- 
gendstil zurückzuführende Zarte und Knospenhafte 
der «Knienden». Man hat diese in demütiger Erwartung 
verharrende Gestalt mit der Tradition der Maria der 
Verkündigung in Verbindung gebracht, und auch uns 
scheinen sich hier Verinnerlichung und das Hinhören 
auf ein Transzendentes, das sich in der Übermacht 
des Raumes manifestiert, zu vereinen. 
Solche Reminiszenzen stellen sich beim «Emporstei- 
genden Jüngling», der nächsten grossen Figur Lehm- 
brucks, 1912/13 entstanden, nicht mehr ein. Das Vege- 
tative, die Reste dekorativ fliessender Linien weichen 
einem strengen Gefüge von Geraden, das von den 
Gliedern gebildet wird und sie zugleich fesselt. Beson- 
ders in der frontalen Ansicht, wie sie von einer alten 
Atelieraufnahme hervorgehoben wird, kommt das 
Zwingende dieses geometrischen Gerüstes zur Gel- 
tung. Von den Füssen bis zur Schulter wird die Gestalt 
geringfügig, aber in straffem Zug breiter, eine Bewe- 
gung, die durch ihre Wiederholung im Umriss des 
Kopfs gesteigert wird; zusammen mit der nach oben 
zeigenden Geste der Hand wird so ein emporstreben- 
der Wille angedeutet. In der Seitenansicht, in der sich 
das Haltungsmotiv der Figur am deutlichsten entfaltet, 
wird aber klar, dass dieser Jüngling nicht tatsächlich 
emporsteigt; der Blick ist nach unten gesenkt, das
	        
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