WILHELM LEHMBRUCK
(‚EMPORSTEIGENDER JÜNGLING.
Seit vielen Jahren schon stand der «‚Emporsteigende
Jüngling>» im grossen Saal mit den Gemälden Munchs,
Kokoschkas und Beckmanns als Leihgabe der Familie
des Künstlers, die sich Zürich und seinem Museum
seit Lehmbrucks längerem Aufenthalt 1916-1918 ver-
bunden fühlt und die durch ihr Entgegenkommen nun
den Ankauf dieses Hauptwerkes der deutschen Skulp-
tur unseres Jahrhunderts ermöglichte. Wie Segantinis
(Alpweidem tritt der «Emporsteigende Jüngling» als
Werk von herausragender Bedeutung in die Mitte von
mehreren bereits vorhandenen Arbeiten des Künstlers
die nun beispielhaft eine gültige Vorstellung über sein
ganzes Schaffen ermöglichen.
Lehmbruck (1881-1919) stammte aus der kinderrei-
chen Familie eines Bergmanns bei Duisburg; die Ar-
mut zwang zu kunstindustriellen Brotarbeiten, die
durch die früh erkannte Begabung ermöglicht wurden.
den Abschluss der Ausbildung an der Düsseldorfer
Akademie aber bis 1908 verzögerte. Vielfältige Anre-
gungen der Skulptur seit Rodin verarbeitete er in ver
schiedenen, beachtlichen Werken; sie führten ihn zu
einem klassisch vollendeten und harmonischen Figu-
renstil. 1910 übersiedelte er nach Paris; hier schuf er
mit der «Grossen Stehenden) das Hauptwerk dieser
Richtung, das sich ebenbürtig neben die Skulpturen
Maillols stellt. Erreichte er diese in der urtümlichen
Kraft ihrer schwellenden Plastizität nicht, so übertraf
er sie doch in der geistigen Durchdringung der Ge-
stalt. Mit der «Büste Frau Lehmbruck;» (1910) und dem
«Weiblichen Torso> (1910/11) ist diese erste vollgültige
Phase des Werkes von Lehmbruck im Kunsthaus an-
gemessen vertreten.
Bewegte sich Lehmbruck bis dahin innerhalb der er-
probten Formmöglichkeiten der Zeit, geschah nun ge-
gen schwere innere Widerstände etwas ganz Uner-
wartetes und Neuartiges: Die im folgenden Jahr ent-
standene «Kniende» wendet sich in der expressiven
Überlängerung ihrer Proportionen, in der geometri-
schen Stilisierung von Gewand und Beinstellung von
der klassisch in sich ruhenden Auffassung der
menschlichen Gestalt völlig ab. Ob er erst in Paris
spürte, dass ihm diese mediterrane Welt doch letztlich
fremd war? Oder gelangte er zur Überzeugung, dass
eine solche innere Harmonie von Ideal und Natur und
die entsprechende Vorstellung von Mensch und Welt
nicht mehr zeitgemäss sei? Oder schien ihm künstle-
risch ein Weiterschreiten in der alten Richtung unter
dem Eindruck der neuesten Strömungen - etwa des
Kubismus oder Matisse’ - unmöglich? Bei der Über-
windung des alten Stils half ihm die Erinnerung an die
‘Knienden Knaben» von George Minne; mehr noch als
die motivische Ähnlichkeit weist auf sie die stilisierte
Schlankheit der Glieder und das letztlich auf den Ju-
gendstil zurückzuführende Zarte und Knospenhafte
der «Knienden». Man hat diese in demütiger Erwartung
verharrende Gestalt mit der Tradition der Maria der
Verkündigung in Verbindung gebracht, und auch uns
scheinen sich hier Verinnerlichung und das Hinhören
auf ein Transzendentes, das sich in der Übermacht
des Raumes manifestiert, zu vereinen.
Solche Reminiszenzen stellen sich beim «Emporstei-
genden Jüngling», der nächsten grossen Figur Lehm-
brucks, 1912/13 entstanden, nicht mehr ein. Das Vege-
tative, die Reste dekorativ fliessender Linien weichen
einem strengen Gefüge von Geraden, das von den
Gliedern gebildet wird und sie zugleich fesselt. Beson-
ders in der frontalen Ansicht, wie sie von einer alten
Atelieraufnahme hervorgehoben wird, kommt das
Zwingende dieses geometrischen Gerüstes zur Gel-
tung. Von den Füssen bis zur Schulter wird die Gestalt
geringfügig, aber in straffem Zug breiter, eine Bewe-
gung, die durch ihre Wiederholung im Umriss des
Kopfs gesteigert wird; zusammen mit der nach oben
zeigenden Geste der Hand wird so ein emporstreben-
der Wille angedeutet. In der Seitenansicht, in der sich
das Haltungsmotiv der Figur am deutlichsten entfaltet,
wird aber klar, dass dieser Jüngling nicht tatsächlich
emporsteigt; der Blick ist nach unten gesenkt, das