allzu weit vorgesetzte linke Bein zu einem Ausdrucks-
zeichen erstarrt, die Hand nicht weisend, sondern in
der Geste eines Sinnenden verharrend. Nicht, dass
der Körper nicht mehr zur Tat befähigt wäre; trotz Ih-
rer Längung sind die Glieder noch von organisch ge-
spannter Energie. Die Übergrösse der Gestalt und die
Siegerpose des aufgestützten Fusses knüpfen an die
bis ins alte Griechenland zurückreichende europäische
Tradition des heroischen Menschenbildes an.
Es will uns jetzt gerade als das Besondere und Einma-
lige erscheinen, dass im.«Emporsteigenden Jüngling>
diese grosse Tradition und die ihr zu Grunde liegende
Vorstellung vom Individuum als eines selbstbestimm-
ten, aktiv herrschenden zu einem Letzten und Äusser-
sten kommt. Noch ist die menschliche Gestalt Aus-
druck von Geist und Wille, doch deren entgegenge-
setzte Tendenzen erzeugen eine solche Spannung,
dass das Zerbrechen des Ideals in sich selbst mani-
‘est wird. Die fraglose Konsonanz von Körper und Be-
wusstsein, die uns die griechischen Statuen auszu-
strahlen scheinen, musste im Zeitalter des Christen-
tums zum Problem werden, das mit der Wieder-
belebung antiker Vorstellungen in der Renaissance
neue Aktualität gewann. Michelangelos unvollendete
Skulpturen, der in seine eigene Torsion verstrickte
:Sieger» sprechen für uns solche Fragen an; Lehm-
bruck empfand dies wohl auch, als er Conrad Ferdi-
nand Meyers «Michelangelo und seine Statuen» und «Il
Pensioroso)» abschrieb. Für seinen Freund Paul West-
heim müssen die beiden Gedichte so sehr den Ideen
des Bildhauers entsprochen haben, dass er sie fraglos
als dessen eigene Werke in der in seinem Todesjahr
arschienenen Monoaraphie abdrucken konnte
ın der Literatur wurde Hamlet zum klassischen Bei-
spiel für die Lähmung der Handlungsfähigkeit durch
die Reflexion; vermutlich hatte Lehmbruck Kenntnis
yon Oto Gutfreunds Hamlet-Figuren (1911), die zum
Teil motivische Ähnlichkeiten mit dem «Emporsteigen-
den Jüngling>» zeigen, doch ihre vom Kubismus be-
rührte expressive Formauflösung widersprach offen-
sichtlich seinen Absichten. Der Geist-Leib-Antagonis-
mus war für den ganzen Expressionismus zentral und
wurde in der Regel zu Gunsten einer ekstatischen Le-
bendigkeit entschieden; angeregt wurde diese Revolu-
tion von Nietzsche, der unkritisch als Künder eines ir-
:ationalen Vitalismus aufgefasst wurde. Obwohl der
‚Emporsteigende Jüngling» neuerdings unmittelbar mit
siner Figur des «Zarathustra» in Verbindung gebracht
wurde und Lehmbruck unter den Expressionisten star-
ken Widerhall fand, scheint uns die Aussage der
Skulptur zu rational und pessimistisch, um eine solch
direkte Vereinnahmung zu gestatten.
Waren im «Emporsteigenden Jüngling» Körper und
Geist, Organisches und Geometrisches, Plastisches
und Räumliches noch einmal zusammengezwungen
unter welch inneren Spannungen spricht sich viel-
'eicht am ergreifendsten in den schmerzlich verzerrten
Gesichtszügen aus, die schon von den Zeitgenossen
als Selbstbildnis aufgefasst wurden —, so zerbricht in
den weiteren Werken Lehmbrucks diese Einheit. Be-
‚eits in den weiblichen Figuren des folgenden Jahres
gewinnt die geometrische Stilisierung, wohl unter
dem Einfluss der neuen Entwicklung in der Skulptur,
auch in den Einzelteilen des Körpers das Übergewicht.
Mit dem Ausbruch des Weltkrieges verschärfte sich
die Situation: in dem «Stürmenden - Getroffenen» ent-
stand eine expressionistische Ausdruckschiffre von
\4Ööchst prekärer Formkohärenz, während im «Gestürz
ten» der Leib völlig von räumlich-geometrischen Ge-
setzmässigkeiten beherrscht wird. Die extremste For-
mulierung aber fand dieses tragische Eingehen oder
Versteinern des Lebendigen zur kristallinen Form in
der «Betenden». Sie entstand als eines der letzten
Werke im Zusammenhang mit einer nicht mehr reali-
sierten «Pietäy während seiner Zürcher Jahre vor sei-
1em Freitod in Berlin 1919. In unserem Steinguss-
axemplar, das jahrzehntelang auf einem Grabe der
Verwitterung ausgesetzt war, kommt diese existen-
tielle Aussage in besonderer Weise zur Geltung.
Rein formal mag Lehmbruck nicht sehr innovativ
gewesen sein - aber es zeichnet gerade die heutige
Situation der Kunstkritik aus, dass sie sich aus der
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