Full text: Jahresbericht 1985 (1985)

Innereien als auch in der Verwendung der künstleri- 
schen Mittel. Schon die Differenzierung der Realitäts- 
ebenen durch die schemenhafte Cousine steht dem 
extremen Naturalismus entgegen, der sonst noch dem 
Unwahrscheinlichsten - wie unserer «Femme ä t&te 
de roses; - illusionistisch dingliche Tatsächlichkeit ver: 
leihen will. Selbst das Hauptmotiv, der auf den ersten 
Blick so plastisch gerundete Turm mit seinem starken 
Schlagschatten, zeigt bei näherer Betrachtung merk- 
würdige Irritationen: nicht nur in der Verteilung und 
den Grössenverhältnissen des einzigen Fensters und 
der winzigen Pforte, die gerade so viel wie der weit 
entferntere Mann misst, den Turm selbst aber ins Rie- 
senhafte, bis an die Wolken wachsen lässt, sondern 
auch in der Schichtung des Mauerwerkes, das auf ei- 
nen hoch über den Bergen liegenden Horizont ausge- 
richtet und in seiner Krümmung eher die Innenseite 
wiederzugeben scheint. Ob hier der Künstler dem per- 
spektivisch nachrechnenden Verstand ein Schnipp- 
chen schlagen wollte oder ob er wie mit den von 
Schubladen durchlöcherten Figuren das Problem von 
innen und aussen anspricht, beides geschieht in subti- 
ler Weise und gehört zu den zentralen Anliegen der 
surrealistischen Kunst. 
verfolgen, sehen wir, dass in diesem Bild in besonde- 
rem Masse zur Geltung kommt, was Breton schon 
1936 an Dali lobte: «(Dali) ist es gelungen, in sich und 
in seinem Werk den auf der Intuition beruhenden Iyri- 
schen Zustand - der es nur verträgt, von Genuss zu 
Genuss zu eilen (Konzeption des so stark wie möglich 
erotisierten künstlerischen Vergnügens) - mit dem auf 
Reflexion beruhenden spekulativen Zustand ins Gleich- 
gewicht zu bringen - der als Vermittler von Befriedi- 
gungen einer gemässigteren Art fungiert, die aber so 
spezieller und feiner Natur sind, dass das Lustprinzip 
hier nicht wirksam wird.) 
Christian Klemm 
Literatur: 
Dali. Ausstellungskatalog Baden-Baden 1971. Kat. Nr. 23 
Damit kommen wir zum Inhaltlichen dieser Bilder, die 
wie meist bei Dali von psychoanalytischen Vorstellun- 
gen geprägt sind; hierin gründet auch ihre prinzipielle 
Zweideutigkeit, die den äusseren Dingen eine psychi- 
sche Dimension zuwachsen lässt. Während in mehre- 
ren Werken kindliche Erlebnisse aufgearbeitet wer- 
den, geht es beim «Turm» um das zentrale Thema von 
Freud und den Surrealisten, das Verhältnis der Ge- 
schlechter. Der rechten, männlichen Seite mit ihrer 
konkreteren Gegenständlichkeit - bis hin zu den pa- 
stosen Wölklein über dem Turm -— steht die weibliche 
mit weichen nebulös evokativen Formen gegenüber; 
zwischen beiden vermitteln die Vögel. Die gegenseiti- 
ge Anziehung Ist in einem Zustand spannungsvoller 
Schwebe; zwar starrt der Mann wie gebannt über die 
leere heisse Ebene, wo sich die weiblichen Phantas- 
men bilden, doch die Öffnungen des Turmes sind ih- 
nen eher abgewandt. Doch auch ohne dies weiter zu 
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