3RUCE NAUMAN UND ROBERT RYMAN
Mit dem Erwerb der grossformatigen Kohlezeichnung
(«Skewed tunnel and trench in false perspective> (Ver-
zogener Tunnel und Graben in falscher Perspektive),
1981, 144,5 x 165,5 cm, von Bruce Nauman (Abb. 17)
konnte die bereits in unserem Besitz befindliche
Gruppe von Zeichnungen, Graphiken, Artist Books und
Videobändern dieses 1941 in Fort Wayne, Indiana, ge-
borenen und heute in Pecos, New Mexico, lebenden
Künstlers in glücklicher Weise ergänzt werden. Das
Werk von Bruce Nauman entzieht sich in seiner Kom-
plexität Begriffen wie Process Art, Concept Art, Mini-
mal oder Postminimal Art, die häufig in seinem
Zusammenhang genannt werden. Für den in den ver-
schiedenartigsten Medien arbeitenden Künstler steht
die Zeichnung gleichberechtigt neben den Objekten,
Installationen, Photos und Videobändern.' Sie dient
ihm nicht nur zur Vorbereitung seiner plastischen Ar-
beiten, sondern ist selbständige Ausdrucksform seiner
künstlerischen Vorstellungen.
Unsere Zeichnung gehört zu Naumans utopischen
Projekten von gigantischen, unterirdischen Bauten,
wie Tunnels, Kanälen, Rampen oder Schächten, die
Ihn seit 1973 in zunehmendem Masse beschäftigen.
Dabei ist es für ihn unwichtig, dass bisher keines die-
ser grossräumigen Vorhaben verwirklicht worden ist.
Diejenigen, die er als Modelle im Raum ausgeführt
hat, betrachtet er als selbständige Skulpturen. Bereits
Jnsere Zeichnung <«Drawing for cast iron core of un-
derground chamber» von 1977? zeigt den Entwurf für
die Monumentalskulptur eines Gusseisengehäuses
eines unterirdischen Tunnelringes. Im Gegensatz zu
dieser klar und nüchtern mit Bleistift gezeichneten und
mit genauen Massangaben versehenen Entwurfsskizze
verbildlicht unsere Neuerwerbung die kompliziertere,
zweiteilige Ringkonstruktion von «Tunnel» und «Graben»
n einer sehr malerischen Ausführung. Mit kraftvollen,
<urvig geschwungenen Kohlestrichen, mit in gesti-
schen Spuren nass verriebenem Kohlepulver und mit
starken Hell-Dunkel-Kontrasten verleiht Nauman der
Darstellung eine ausgesprochen expressive Dynamik.
Ganz bewusst erschwert er damit auch die Lesbarkeit
Versucht man die Lage der beiden halbkreisförmigen
Elemente zueinander sowie ihre Querschnitte genaue!
zu bestimmen, beginnt die Irritation des Betrachters.
Hat das obere geschlossene Ringsegment einen drei
eckigen Querschnitt oder gehört das daran anstosser
de untere Dreieck dazu, so dass man von einem
rhombenförmigen Querschnitt ausgehen müsste? Die
an dieser Stelle wie von innen leuchtende Helligkeit
lässt die Struktur des Tunnels sichtbar werden. Das
vordere Segment, das wohl auf der rechten Seite als
nach oben offene Vertiefung zu sehen ist, nämlich als
der im Titel angesprochene «Graben, wird auf der lin
ken Seite durch die «falsche Perspektive») so verdreht
dass es mit seinem dreieckigen Profil plastisch nach
vorne tritt und sich in einer spiralförmigen Bewegung
über das obere Ringelement zu schieben scheint.
Oder ist der dreieckige Querschnitt auch dort als in
die Tiefe führende Innenform zu verstehen? Je nach
Blickwinkel verändert sich das Gebilde immer wieder
kippt das Innen nach aussen oder das Aussen nach
innen. Die Umkehrung von Innen- und Aussenform
zieht sich wie ein Leitmotiv durch das Werk von Bruce
Nauman, beginnend mit den frühen Fiberglasarbeiten
und den sogenannten «Neon-Schablonen» seines Kör
pers sowie den danach angefertigten Bronzegüssen.‘
Er selbst sagte einmal dazu, er würde sich der «Ver-
drehung)» bedienen als einer «Einstellung, die ich
manchmal einnehme, um etwas herauszubekommen
- z.B. Dinge von innen nach aussen zu kehren, um zu
sehen, wie sie ausschauen. Das hängt mit Sachen zu
sammen, die man nicht gern tut, sich in eine unge-
wohnte Situation bringen, Widerständen folgen, um
herauszufinden, warum man Widerstand leistet...“
Sichtverkehrung ist auch ganz allgemein Thema des
Tunnels: Was normalerweise als Einschnitt in einen
Berg nicht von aussen sichtbar ist, sondern nur als In
nenform existiert, wird als plastische Aussenform vor
geführt. Es wird gewissermassen der Hohlraum mate
rialisiert. In umgekehrter Weise schuf Nauman bereits
in den sechziger Jahren sogenannte «Fallen» oder
«Aufbewahrungskapseln» für Henry Moore oder für