Full text: Jahresbericht 1986 (1986)

stammt aus der Palette der Neoimpressionisten und 
wird von Gauguin In seinen späteren Werken oft ande- 
ren Farben von starkem Eigenwert wie Karmin oder 
Lila gegenübergesetzt. In «Le bol blanc» finden sich noch 
keine solche Kühnheiten, aber in der Zusammenstel- 
lung zweier Rot-Grün-Paare, das eine nach Gelb, das 
andere nach Blau gebrochen, kündigen sie sich bereits 
an. Während sich hier die von Gauguin notierten «com- 
binaisons illimite&es du jeu des couleurs juxtaposees 
et non melangees; pointillistisch über das ganze Bild- 
feld verteilen, treten sie in den reifen Werken zu gros- 
sen, ausdrucksmächtigen Flächen zusammen. 
Die Einbettung dieser Farben in helles, vielfach vari- 
iertes Blau und die Auffassung des Themas weisen auf 
Gauguins wichtigstes Vorbild in dieser Gattung, die 
Stilleben Cezannes, von denen er selbst eines besass - 
es ist das gleiche Bild, das Maurice Denis 1900 in den 
Mittelpunkt seines Gruppenbildnis «Hommage ä Ce- 
zanne) rückte. Ebenso wie in den Werken Degas’, mit 
dem er in diesen Jahren in einem spannungsreichen 
Gedankenaustausch stand, fand er hier - anders als bei 
seinem Lehrer Pissarro - Anregungen, zu einer erfin- 
dungsreichen, freieren und zugleich strengeren Kom- 
positionskunst. Zur Erarbeitung der gesuchten neuen. 
in sich selbst bestimmten flächigen Bildform eignete 
sich das Stilleben besonders, da es schon vom Motiv 
her ganz dem Willen des Künstlers unterliegt und die 
gewünschte exakte Fügung ermöglicht. Und welcher 
malerische Reichtum und künstlerische Höhe bei aller 
Schlichtheit sich in ihm realisieren lässt, zeigten die 
Stilleben Chardins, die mit dem Vermächtnis von La 
Caze einige Jahre früher in den Louvre gelangten und 
CeEzanne tief beeindruckten. Bei beiden Malern fand 
Gauguin eine Vorliebe für weisses Geschirr von einfach- 
ster Form und die Freiheit in der Behandlung der Per- 
spektive zugunsten der Komposition. So erscheinen die 
Gefässe Im reinen Profil, obwohl man auf die Unter- 
lage sieht; umgekehrt fällt in einem wenig späteren, 
erstaunlichen Bild, einem kleinen Tondo in Zürcher 
Privatbesitz, der Blick in senkrechter Aufsicht auf drei 
Früchte. 
Im Bemühen, von dem Skizzenhaften und Improvisier- 
ten der Impressionisten zum vollendeten Werk —- zum 
«(Euvre) - zu kommen, sucht Gauqguin nicht nur in der 
malerischen Ausführung, sondern auch in der Bildform 
eine neue Komplexität. Bereits im Vorjahr hatte er ein 
Stilleben mit einem Spiegel verbunden; aber während 
sich dort ziemlich unvermittelt eine Gesellschaft in 
einem Zimmer zeigt, reflektiert sich nun der Hauptge- 
genstand des Stillebens selbst. Wie in Manets letz- 
tem Meisterwerk, der wenige Jahre zuvor entstande- 
nen «Bar aux Folies Bergeres;, ergibt sich ein merk- 
würdig irritierendes Spiel der Realitätsebenen; statt die 
Sicht zu öffnen, nimmt der Spiegel den Blick des Be- 
trachters gefangen. Das Motiv ist bezeichnend für die 
Rückwendung der Symbolisten in die eigene Subjek- 
tivität, wie es des Esseintes in Huysmans Roman 
‚A Rebours; (1884) vorlebte. Später werden die Nabis 
Ihren intimen Interieurs gerne mit einem Spiegelbild 
aine weitere Dimension verleihen; im Kunsthaus lässt 
sich dies an dem ausserordentlichen Bildnis Ambroise 
Vollards von Bonnard studieren. 
Neuerdings wurde versucht, Stilleben von Gauguin 
inhaltlich aufzuschlüsseln. So scheint die Zusammen- 
stellung eines frühgriechischen Pferdekopfes mit 
japanischen Fächern auf eine damals geläufige Verbin- 
dung dieser beiden als beispielhaft betrachteten archa 
ischen und exotischen Kunstsphären hinzuweisen. In 
(Le bol blanc» treten solch inhaltliche Aussagen hinter 
den formalen Problemen wohl ganz zurück, auch wenn 
der Spiegel ein deutungsträchtiger Gegenstand ist. 
ın Ihm aber sehen wir oben Andeutungen zweier merk- 
würdiger Gesichter: neben einem Auge in ägyptisch 
stilisiertem Profil ist eine rote Stirn zu ahnen - als ob 
sich hier aus der Zukunft exotische Figuren, die Gau- 
quin erst in Tahiti malen wird, zurückspiegelten... 
Christian Klemm 
Literatur 
Georges Wildenstein: Gauquin (Paris 1964) no. 211. - G.M. Sugana 
L’opera completa di Gauguin (Mailand 1972; = Classici dell’Arte 61) 
no. 36. 
Das Zitat nach Francoise Cachin: Gauguin (Paris 1968) p. 80; vgl. 
Correspondance de Paul Gauguin. Documents. Temoignages (Edition 
Stablie par Victor Merlhes, vol. I, Paris 1984). Ferner benützt: Sven 
Lövgren: The Genesis of Modernism. Seurat, Gauguin, van Gogh and 
French Symbolism in the 1880’s (Stockholm 1959; = Figura 11); Post- 
Npressionism (Ausst. Kat. Royal Academy London 1979). 
MM 
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