Ende 1959 veranstaltete Tinguely in London einen
«Cyclomatio»-Abend mit leibhaftigen Radrennfahrern,
die mit einer Metamatic-Maschine wetteiferten, wer
schneller ein Bild auf einer Papierbahn von einer Meile
Länge abspulen konnte. Im März 1960 führte Tinguely
im Hof des Museum of Modern Art seine sich selbst-
zerstörende «Hommage ä New York) vor. Aus den USA
brachte er ein elektrisches Schweissgerät mit, das
seine Arbeitsweise vereinfachte und beschleunigte.
Ausser dem «Cyclograveurn entstanden in kurzer Zeit
so wichtige Arbeiten wie «Gismo», «Marilyn» oder «Der
Turm», ein «Skulpturenmachen und ein «Skulpturen-
zerstören. Der spezifische Charme vieler dieser Maschi
nen besteht in ihrer gleichsam improvisierten Mach-
art, ihrer Leichtigkeit und Transparenz. Das Plastische
ist auf den verspielten Mechanismus konzentriert;
Tinguelys Absicht erschliesst sich im zweideutigen
Ausstellungstitel der «Galerie des 4 Saisons»: L’art fonc-
tionnel de Tinguely. Der «Cyclograveun besitzt eine
Vielzahl faszinierender plastischer Details, die wie Ba-
steleien wirken und dennoch (bis heute) ihren Dienst
tun. Als plastische Gesamtform ähnelt er dem animali-
schen «Gismo», beim Zeichenvorgang <rüsselt) er so-
zusagen, und wie «Gismo» führt er Nachwuchs mit sich
hier einen flachgedrückten und ausgehöhlten Kinder-
«Rennkarren», der an einer eisernen Leine im Rhythmus
des Fahrers scheppert. Dieser (sofern er aus konser
vatorischen Gründen noch darf) ist zu einer simultanen
Lektüre — oder Rezitation (als eine Art Wortmusik)
eines vor ihm plazierten Buches angehalten, das wie
das Fahrgestell oder der Sattel bereits mehrfach ersetzt
werden musste. Zur Zeit ist ein ladenfrischer Duden
montiert, farblich zum orangen Fahrrad-Rahmen neue:
ren Datums und zu lichtreflektierenden Pedalen pas-
send. Verbrauchte Exemplare wie ein französisches und
ein schwedisches Adressbuch sind ebenfalls in den
Besitz des Kunsthauses übergegangen. Sie symbolisie-
ren die babylonische Persiflage eines Gesamtkunst-
werkes und als zerlesene Abfallprodukte den für Tin-
qguely wichtigen Zusammenhang zwischen Kunst und
Leben anhand «erlebten Gegenstände. Als Souvenir
der Zürcher Ausstellung packte der Künstler vergnügt
jenen Katalog ein, der bis zur Unkenntlichkeit abge-
griffen beim Eingang zur Ansicht auflag.
Der «Cyclograveurn gehört wie andere Werke dieses
Jahres zu den markantesten Werken des Künstlers. MI
den früher erworbenen Stücken, dem bereits erwähn-
ten «Relief sonore lı (1955), dem «Radio Nr. 7, WNYR;
(1962), «Bascule XIlb (1969) und «Hommage ä Alexan-
der Calder et Richard Stankiewicz» (1967/77) bildet
er eine Werkgruppe, die hoffentlich als noch nicht ab-
geschlossen betrachtet werden darf.
Guldo Magnaguagno
Anmerkung
Pontus Hulten. Jean Tinguely, «Meta, Berlin 1972, S. 153-170.
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