Full text: Jahresbericht 1986 (1986)

Ende 1959 veranstaltete Tinguely in London einen 
«Cyclomatio»-Abend mit leibhaftigen Radrennfahrern, 
die mit einer Metamatic-Maschine wetteiferten, wer 
schneller ein Bild auf einer Papierbahn von einer Meile 
Länge abspulen konnte. Im März 1960 führte Tinguely 
im Hof des Museum of Modern Art seine sich selbst- 
zerstörende «Hommage ä New York) vor. Aus den USA 
brachte er ein elektrisches Schweissgerät mit, das 
seine Arbeitsweise vereinfachte und beschleunigte. 
Ausser dem «Cyclograveurn entstanden in kurzer Zeit 
so wichtige Arbeiten wie «Gismo», «Marilyn» oder «Der 
Turm», ein «Skulpturenmachen und ein «Skulpturen- 
zerstören. Der spezifische Charme vieler dieser Maschi 
nen besteht in ihrer gleichsam improvisierten Mach- 
art, ihrer Leichtigkeit und Transparenz. Das Plastische 
ist auf den verspielten Mechanismus konzentriert; 
Tinguelys Absicht erschliesst sich im zweideutigen 
Ausstellungstitel der «Galerie des 4 Saisons»: L’art fonc- 
tionnel de Tinguely. Der «Cyclograveun besitzt eine 
Vielzahl faszinierender plastischer Details, die wie Ba- 
steleien wirken und dennoch (bis heute) ihren Dienst 
tun. Als plastische Gesamtform ähnelt er dem animali- 
schen «Gismo», beim Zeichenvorgang <rüsselt) er so- 
zusagen, und wie «Gismo» führt er Nachwuchs mit sich 
hier einen flachgedrückten und ausgehöhlten Kinder- 
«Rennkarren», der an einer eisernen Leine im Rhythmus 
des Fahrers scheppert. Dieser (sofern er aus konser 
vatorischen Gründen noch darf) ist zu einer simultanen 
Lektüre — oder Rezitation (als eine Art Wortmusik) 
eines vor ihm plazierten Buches angehalten, das wie 
das Fahrgestell oder der Sattel bereits mehrfach ersetzt 
werden musste. Zur Zeit ist ein ladenfrischer Duden 
montiert, farblich zum orangen Fahrrad-Rahmen neue: 
ren Datums und zu lichtreflektierenden Pedalen pas- 
send. Verbrauchte Exemplare wie ein französisches und 
ein schwedisches Adressbuch sind ebenfalls in den 
Besitz des Kunsthauses übergegangen. Sie symbolisie- 
ren die babylonische Persiflage eines Gesamtkunst- 
werkes und als zerlesene Abfallprodukte den für Tin- 
qguely wichtigen Zusammenhang zwischen Kunst und 
Leben anhand «erlebten Gegenstände. Als Souvenir 
der Zürcher Ausstellung packte der Künstler vergnügt 
jenen Katalog ein, der bis zur Unkenntlichkeit abge- 
griffen beim Eingang zur Ansicht auflag. 
Der «Cyclograveurn gehört wie andere Werke dieses 
Jahres zu den markantesten Werken des Künstlers. MI 
den früher erworbenen Stücken, dem bereits erwähn- 
ten «Relief sonore lı (1955), dem «Radio Nr. 7, WNYR; 
(1962), «Bascule XIlb (1969) und «Hommage ä Alexan- 
der Calder et Richard Stankiewicz» (1967/77) bildet 
er eine Werkgruppe, die hoffentlich als noch nicht ab- 
geschlossen betrachtet werden darf. 
Guldo Magnaguagno 
Anmerkung 
Pontus Hulten. Jean Tinguely, «Meta, Berlin 1972, S. 153-170. 
*
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.