Full text: Jahresbericht 1986 (1986)

am andern Ende der Skala die Kölner im Liebreiz der 
Madonnen. Doch unversehens schlägt solcher Expres- 
sionismus ins hausbacken Biedere um —- man ist ver- 
sucht, hier eine Entsprechung zur Enge dieser Hand- 
werkerstädte zu sehen, den man in Saubanner- und 
anderen Kriegszügen entfloh und in denen es häufig zu 
Schlägereien und Messerstechereien kam. 
Christophorus. Oft blieb die Verbindung der beiden Teile 
unsicher und beliebig; bei der «Anbetung» des älteren 
Berner Nelkenmeisters trennt sie eine halbhohe Bretter 
wand, über die im Verhältnis zu kleine Hirten schauen. 
Im Johannes in der Wüste» ringt der andere Berner 
Nelkenmeister um eine organische Einheit von Figuren 
und Landschaft, wie sie im nächsten Jahrhundert vor 
allem die Donauschule anstreben und erreichen wird. 
Mit dem Verzicht auf die Landschaft erreichte der Ma- 
ler der <«Enthauptung» die Konzentration auf die Szene; 
welcher Gewinn daraus zu ziehen ist, weiss man von 
Grünewalds «Kreuzigungen) oder Caravaggios Bildern. 
Dass auch bei der Zürcher Tafel eine entschiedene 
ästhetische Absicht vorliegt, erweist sich in der Klarheit 
des räumlichen Aufbaus der Gruppe: der Massstab 
der dicht, aber völlig deutlich in die Tiefe gestaffelten 
Figuren wird genau gewahrt; kurze Schlagschatten pla- 
zieren sie exakt auf dem Grund. In der «Anbetung der 
Könige» hat der andere Zürcher Nelkenmeister Ähn- 
liches versucht; bei der komplizierteren Gruppe in der 
Pfingstdarstellung vermochte er aber Brüche nicht zu 
vermeiden. 
So zeigt die deutsche Malerei der Spätgotik ein ganz 
uneinheitliches Bild; dass verschiedenartige Möglichkei- 
ten offen, Widersprüche unaufgelöst bleiben, gegen- 
sätzliche Strömungen nebeneinander stehen, bietet ge- 
rade dem heutigen, wieder «postmodernen) Betrachter 
eigenwillige Reize und lässt die künstlerischen Pro- 
bleme deutlich hervortreten. Die von den Zürcher Zünf- 
ten neu erworbene Tafel (Abb. 1) bietet zu diesen Fra- 
gen besonders ausgeprägte Antworten und tritt so 
in unserem Nelkenmeister-Saal in einen erhellenden 
Dialog mit den andern, schon über ein halbes Jahrhun- 
der hier vereinten Gemälden. Er bietet den konzen- 
triertesten Überblick über die gegen Ende des 15. Jahr- 
hunderts im Schweizer Mittelland führenden Meister: 
dass nun auch noch der zweite in Zürich tonange- 
Dende Maler hier Einzug halten konnte, ist ein uner- 
warteter Glücksfall.4 
Das wesentlichste Gestaltungsmittel unseres Künst- 
lers ist aber die Komposition in der Bildfläche: es ist ein 
gotisches Prinzip, das hier entschieden zur Geltung 
im Vergleich der Nelkenmeister-Tafeln fällt wohl als gebracht wird. Die schon von Kreuzigungsdarstellun- 
arstes die Kargheit des Hintergrundes bei der <«Enthaup- gen traditionelle Anordnung von dicht gedrängten 
tung eines Jugendlichen Heiligen» auf: gegenüber den Randgruppen und isoliert Leidendem in der Mitte wird 
detailreichen Landschaften der übrigen Szenen nimmt kunstvoll präzis variiert, indem der Henker von den 
sich das kahle Terrain der Hinrichtungsstätte als klare rechten Gestalten gelöst und als Rückenfigur dem fron- 
Verweigerung aus. Solche Landschaftshintergründe talen Krieger in gleicher Haltung gegenüber gestellt 
gehören zu den grossen Neuigkeiten der Malerei des wird. So fassen die beiden dunklen Schergen den 
15. Jahrhunderts; nachdem sie mit dem starken nieder- knienden Heiligen ein; das merkwürdige Erdhügelchen 
ändischen Einfluss auch in Oberdeutschland zuneh- vorn betont diese diagonale Achse. Die Waffen und 
mend überhand nahmen und zu einer routinierten Häu- Slieder der Männer durchdringen die ganze Fläche mit 
‘ung von Bäumchen und Häuslein, Hügeln und Felsen einem Netz steiler gegengleicher Schrägen. Man 
verkamen, gab es gegen 1500 anscheinend doch möchte eine solche starre Vergitterung als Ausdruck 
ainige Künstler, die diese Übung in Frage stellten. Denn der «institutionellen Gewalt», der in wenigen Augenblik- 
solcher Schmuck lenkt häufig vom eigentlichen Gegen- ken der Junge Heilige zum Opfer fallen wird, verste- 
stand, der Figurenszene, ab; noch Konrad Witz hatte hen. Denn anders als in vielen gleichzeitigen Szenen - 
nur dort eine Landschaft gegeben, wo sie zur Erzählung man vergleiche etwa die «Geisselung Christi» des Kon- 
gehört - etwa beim Fischfang Petri oder dem heiligen stanzer Meisters des Hohenlandenberaer Altars — wer- 
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