den bei diesem Martyrium alle affektiven Brutalitäten
unterdrückt. Betrachtet man die einzelnen Köpfe in
ihrer Beziehung zur Szene und überlegt sich, was in
ihnen vorgeht, erhält man ein klares Psychogramm der
Gruppe. Die hinteren beiden Soldaten im exakten Pro-
fil erscheinen als die mechanisch funktionierenden
Werkzeuge der Macht; unbeteiligt blicken sie über das
drohende Unrecht hinweg und machen sich so schul-
dig. Anders verhalten sich der Scharfrichter und der
vordere Krieger; sie schauen fragend zu ihren Vorge-
setzten. In dem geneigten Haupt des Gerüsteten zeigt
sich Trauer; der Mann mit dem Turban weicht seinen
Augen aus. Der Henker hat sein bereits gezücktes
Schwert wieder gesenkt und blickt fast zornig zum Lei-
ter der Exekution zurück. So differenziert der Künstler
genau zwischen der physischen Ausführung durch die
breitbeinig dastehenden Knechte und der moralischen
Verantwortung der reich gekleideten, sich affektiert
präsentierenden Richter. Inmitten dieser Verstrickungen
kommt das schlichte und feine Gesicht des Märtyrers
in seiner Reinheit voll zur Geltung.
Die Strenge der Komposition und ihre räumliche Ent-
wicklung muss einst noch stärker gewirkt haben, als
über das oberste Sechstel der Tafel ein geschnitzter
Masswerkschleier wie ein Baldachin lag.® Denn das Ge-
mälde gehörte ohne Zweifel zu einem Altar; die Zu-
rückhaltung, die sich der Künstler nicht nur in der Ge-
staltung der Figurengruppe und der Erschliessung der
Tiefe, sondern auch in der ausgewogenen Farbgebung
auferlegte, erscheint in diesem grösseren Bezugsrah-
men besonders sinnvoll. Damit erhebt sich die Frage
nach dem ursprünglichen Zusammenhang der neu auf-
getauchten Tafel. Dass sie bereits im letzten Jahrhun-
dert in Frankreich war, lässt der unpassende Neurenais-
sance-Rahmen vermuten‘; in Deutschland wäre sie
wohl kaum bis heute den Nachforschungen der Kunst-
gelehrten entgangen. Da nicht einmal der Heilige klar
zu identifizieren ist, wird es wohl kaum je gelingen,
ihren Bestimmungsort zu ermitteln.”
Hingegen lässt sich - ein seltener Glücksfall — mit
grosser Sicherheit sagen, dass das Gemälde in Zürich
antstand. Ein erstes Indiz geben die als Signaturzeichen
dienenden Nelken, die mehrere, damals vor allem in
Zern und Zürich tätige Meister auf ihren Billdern an-
orachten.8 Das früheste und bedeutendste Werk, auf
dem das rot und weisse Blumenpaar erscheint, ist
der Hochaltar der Fryburger Franziskanerkirche, der
1480 in Solothurn von dem Basler Rutenzweig begon-
1en und von seinem Gesellen Paul Löwensprung von
Strassburg vollendet wurde. Um 1492 liess sich dieser
in Bern nieder, wo anscheinend die Tafel mit der Geburt
Christi im Kunsthaus entstand.? Dort wirkte auch ein
weiterer Maler, der seine Bilder mit Nelken zeichnete;
sein Hauptwerk ist ein Johannesaltar, von dem gleich-
falls eine doppelseitige Tafel ins Kunsthaus gelangte. ©
Während sich Löwensprung noch ganz der zweiten
niederländischen Welle verpflichtet zeigt, sind die Figu-
ren des Johannesaltars von einer diesseitigen Lebens-
kraft, die sie der Renaissance näherrückt.”
Das älteste in Zürich mit Nelken bezeichnete Werk ist
‚wohl der Michaelsaltar des Kunsthauses. Er ist stili-
stisch eindeutig dem Meister des Martyriums von Felix.
Regula und Exuperantius vor der Zürcher Stadtansicht
als Frühwerk zuzuordnen. Diese Fragmente im Lan-
desmuseum aber stammen offensichtlich von jenen
Tafeln, die Hans Leu der Ältere um 1500 für die Grab-
<apelle der Heiligen im Grossmünster malte.'2? Der
andere Zürcher Nelkenmeister dürfte nach der Beurtei-
lung des Stiles etwas älter gewesen sein; gemeinsame
Grundlage ist das Werk Schongauers mit seinen über-
'ängten Figuren. Die beiden Meister haben sich gegen-
zeitig angeregt, ja durch den Austausch von Gesellen
gibt es sogar Werke wie der Eligiusaltar des Landes-
nNuseums, die verbindend zwischen den Werkstätten
stehen.
Trotzdem handelt es sich um zwei recht verschiedene
<ünstlerische Temperamente.'* Leu hat eine Vorliebe
fürs Landschaftliche; zunächst stark der niederländi-
schen Tradition verhaftet, wird er in der Stadtansicht
ganz zum Realisten. Dem gegenüber ist sein Kollege
primär ein Stilist, für den die geschlossene Gestaltung
der Bildfläche wesentlich ist; der illusionistischen