Full text: Jahresbericht 1986 (1986)

den bei diesem Martyrium alle affektiven Brutalitäten 
unterdrückt. Betrachtet man die einzelnen Köpfe in 
ihrer Beziehung zur Szene und überlegt sich, was in 
ihnen vorgeht, erhält man ein klares Psychogramm der 
Gruppe. Die hinteren beiden Soldaten im exakten Pro- 
fil erscheinen als die mechanisch funktionierenden 
Werkzeuge der Macht; unbeteiligt blicken sie über das 
drohende Unrecht hinweg und machen sich so schul- 
dig. Anders verhalten sich der Scharfrichter und der 
vordere Krieger; sie schauen fragend zu ihren Vorge- 
setzten. In dem geneigten Haupt des Gerüsteten zeigt 
sich Trauer; der Mann mit dem Turban weicht seinen 
Augen aus. Der Henker hat sein bereits gezücktes 
Schwert wieder gesenkt und blickt fast zornig zum Lei- 
ter der Exekution zurück. So differenziert der Künstler 
genau zwischen der physischen Ausführung durch die 
breitbeinig dastehenden Knechte und der moralischen 
Verantwortung der reich gekleideten, sich affektiert 
präsentierenden Richter. Inmitten dieser Verstrickungen 
kommt das schlichte und feine Gesicht des Märtyrers 
in seiner Reinheit voll zur Geltung. 
Die Strenge der Komposition und ihre räumliche Ent- 
wicklung muss einst noch stärker gewirkt haben, als 
über das oberste Sechstel der Tafel ein geschnitzter 
Masswerkschleier wie ein Baldachin lag.® Denn das Ge- 
mälde gehörte ohne Zweifel zu einem Altar; die Zu- 
rückhaltung, die sich der Künstler nicht nur in der Ge- 
staltung der Figurengruppe und der Erschliessung der 
Tiefe, sondern auch in der ausgewogenen Farbgebung 
auferlegte, erscheint in diesem grösseren Bezugsrah- 
men besonders sinnvoll. Damit erhebt sich die Frage 
nach dem ursprünglichen Zusammenhang der neu auf- 
getauchten Tafel. Dass sie bereits im letzten Jahrhun- 
dert in Frankreich war, lässt der unpassende Neurenais- 
sance-Rahmen vermuten‘; in Deutschland wäre sie 
wohl kaum bis heute den Nachforschungen der Kunst- 
gelehrten entgangen. Da nicht einmal der Heilige klar 
zu identifizieren ist, wird es wohl kaum je gelingen, 
ihren Bestimmungsort zu ermitteln.” 
Hingegen lässt sich - ein seltener Glücksfall — mit 
grosser Sicherheit sagen, dass das Gemälde in Zürich 
antstand. Ein erstes Indiz geben die als Signaturzeichen 
dienenden Nelken, die mehrere, damals vor allem in 
Zern und Zürich tätige Meister auf ihren Billdern an- 
orachten.8 Das früheste und bedeutendste Werk, auf 
dem das rot und weisse Blumenpaar erscheint, ist 
der Hochaltar der Fryburger Franziskanerkirche, der 
1480 in Solothurn von dem Basler Rutenzweig begon- 
1en und von seinem Gesellen Paul Löwensprung von 
Strassburg vollendet wurde. Um 1492 liess sich dieser 
in Bern nieder, wo anscheinend die Tafel mit der Geburt 
Christi im Kunsthaus entstand.? Dort wirkte auch ein 
weiterer Maler, der seine Bilder mit Nelken zeichnete; 
sein Hauptwerk ist ein Johannesaltar, von dem gleich- 
falls eine doppelseitige Tafel ins Kunsthaus gelangte. © 
Während sich Löwensprung noch ganz der zweiten 
niederländischen Welle verpflichtet zeigt, sind die Figu- 
ren des Johannesaltars von einer diesseitigen Lebens- 
kraft, die sie der Renaissance näherrückt.” 
Das älteste in Zürich mit Nelken bezeichnete Werk ist 
‚wohl der Michaelsaltar des Kunsthauses. Er ist stili- 
stisch eindeutig dem Meister des Martyriums von Felix. 
Regula und Exuperantius vor der Zürcher Stadtansicht 
als Frühwerk zuzuordnen. Diese Fragmente im Lan- 
desmuseum aber stammen offensichtlich von jenen 
Tafeln, die Hans Leu der Ältere um 1500 für die Grab- 
<apelle der Heiligen im Grossmünster malte.'2? Der 
andere Zürcher Nelkenmeister dürfte nach der Beurtei- 
lung des Stiles etwas älter gewesen sein; gemeinsame 
Grundlage ist das Werk Schongauers mit seinen über- 
'ängten Figuren. Die beiden Meister haben sich gegen- 
zeitig angeregt, ja durch den Austausch von Gesellen 
gibt es sogar Werke wie der Eligiusaltar des Landes- 
nNuseums, die verbindend zwischen den Werkstätten 
stehen. 
Trotzdem handelt es sich um zwei recht verschiedene 
<ünstlerische Temperamente.'* Leu hat eine Vorliebe 
fürs Landschaftliche; zunächst stark der niederländi- 
schen Tradition verhaftet, wird er in der Stadtansicht 
ganz zum Realisten. Dem gegenüber ist sein Kollege 
primär ein Stilist, für den die geschlossene Gestaltung 
der Bildfläche wesentlich ist; der illusionistischen
	        
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