Volltext: Jahresbericht 1987 (1987)

vollkommener entsprechen können. Das 45 Zentimeter 
messende, quadratische Bild war durch das Linienkreuz 
aufgeteilt in ein grosses dominierendes rotes Feld, in ein 
wesentlich kleineres blaues links unten und in ein ganz 
kleines gelbes rechts unten. Das Bild war ganz frisch, der 
Künstler hatte es extra auf meinen Besuch hin fertigge- 
macht, und es entströmte ihm noch das ‘Parfum’ des Binde- 
mittels. Die Komposition als Ganzes war von einer Strah- 
lungskraft, die mich mit einer Glückseligkeit erfüllte, wie 
ich es noch nie vor einem Kunstwerk erlebt hatte. Auf der 
Rückseite war auf die Leinwand ein Zettel aufgeklebt mit 
der nachfolgenden, den Sinn und das Wesen der Kunst 
Mondrians zusammenfassenden Widmung: 
Dedie ä mon cher ami et collegue Alfred Roth: Compter seulement 
avec les rapports en les creant et en cherchant leur Equilibre en artet 
dans la vte, c'est le beau travail d’aujourd’huz, c'est preparer 
P’avenir. 
Paris, le 30 janvier 1930 Piet Mondrian 
So war Alfred Roths «Mondrian» zwar je 5 cm zu gross, aber 
mit seinem vielen Rot so «reelle», dass das Bild nicht ohne 
Einfluss auf Roths eigene Tätigkeit blieb. Schon für die 
Corbusier-Häuser der Weissenhof-Siedlung hatte das 
Thema «Architektur und Farbe» zur Debatte gestanden, 
nun wurde es zu einem wichtigen Inhalt des Briefwechsels 
mit Mondrian, der von 1931-1939 rund dreissig Briefe des 
Malers umfasst. Alfred Roths Studien über die farbige 
Gestaltung wurden am CiAM-Kongress 1933 diskutiert, 
ader 1937 hielt er im Kunsthaus Zürich einen Vortrag mit 
dem Titel «Raum — Bild - Farbe in der heutigen Archi- 
tektur». Diese intensive Auseinandersetzung floss selbst- 
verständlich auch in sein eigenes Werk ein, so in die Gestal- 
tung der Schweizer Abteilung an der «Triennale di Milano» 
1957, eine Glaswand im Schulhaus «Riedhof» Zürich (1961- 
63) bis zur Einrichtung der eigenen Geburtstagsausstel- 
lung 1983 im Kunsthaus Zürich. 
Viel mit Roths Stuttgarter Aufenthalt 1927 und seiner 
Faszination für Architektur und Farbe hat auch das Bild 
«Komposition» (Verspannung) aus dem Jahr 1921 von Willi 
Baumeister zu tun, das mit zwei späteren, kleineren 
Werken des Künstlers (als erste Vertretung überhaupt!) aus 
der Sammlung Alfred Roth ins Kunsthaus gelangt. 
Baumeister war Freund von Le Corbusier, und Corbusiers 
Farbmuster für die Bemalung seiner Stuttgarter Bauten 
scheinen Baumeisters Tonwerte, jedenfalls die seiner 
frühen Bilder, zu reflektieren. Baumeisters Jüngste Werke 
zierten die Innenräume der Häuser, über die Alfred Roth 
seine erste Publikation verfasste: Zwei Wohnhäuser von Le 
Corbusier und Pierre Jeannaret, Akademischer Verlag Dr. 
Fr. Wedekind & Co., Stuttgart 1927. Die typographische 
Überwachung besorgte Willi Baumeister.!! Die Freund- 
schaft blieb bis zum Tod des Künstlers 1955 erhalten. 
Willi Baumeisters abstraktes Werk entwickelte sich nach 
dem Krieg von 1919-1923 in rascher Folge. Publizistisch 
unterstützt von Hans Hildebrandt, kämpften die beiden 
jungen Akademie-Lehrer Schlemmer und Baumeister in 
Stuttgart für die Moderne (u.a. schlugen sie Klee als Nach- 
folger Hölzels vor). Die erste bedeutende Leistung waren 
Baumeisters «Mauerbilder», die 1919 einsetzen und eine 
geistige Verwandtschaft mit den zeitgenössischen Archi- 
tekturideen wie der gleichzeitigen Gründung des 
Bauhauses haben.» Nicht der Mensch im Raum beschäf- 
tigte ihn - dies war das Grundthema Schlemmers -, 
sondern die Abkehr vom Illusionismus, die Aufhebung der 
Isolierung des Bildes. Er will in der Fläche bleiben, die eines 
der Hauptprobleme seines ganzen Schaffens wird, und sich 
in ein grösseres Ganzes, den Bau, einordnen, unter Verwen- 
dung der verschiedensten Stoffe, einschliesslich taktiler, 
plastischer Elemente. Klarheit und Formenstrenge, Objek- 
tivität statt Expression, Verlegung der räumlichen Distanz 
nach vorn. Die «Mauerbilder» als «Gesetzestafeln», die 
enthalten, was die Idee des Baus sein könnte».? Das Bild 
Komposition (Verspannung) von 1921 gehört indessen in 
die neue Werkreihe der «Flächenkräfte», welche von 1920- 
1929 dauert und als die einzige Phase bezeichnet werden 
kann, in der sich Baumeister restlos vom Gegenstand löst. 
Er selber hat eine Werkfolge «Konstruktivistisch» betitelt. 
Will Grobmann, der Biograph Baumeisters, fasst diese 
Gruppe von rund 20 Gemälden so zusammen: «Es sind Bil- 
der von grösster Einfachheit und Strenge, die Abstraktion 
ist bis zum äussersten getrieben. Aber wie bei Mondrian 
ist die Abstraktion nicht leer; Flächenteilung, Farbe und 
Rhythmus begleichen die Vorstellung des Malers von dem, 
was die Welt im Innersten zusammenhiält. Es ist unwahr-
	        
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