Volltext: Jahresbericht 1987 (1987)

einfängt, und es andererseits durch das Gespinst des 
weissen «Schneetreibens», das sich wie ein eisiger Schleier 
über die ganze Bildfläche legt, wiederum wie gemildert 
erscheinen lässt. Den Sedimenten des Steins gleich hat sich 
hier Schicht für Schicht einer zähflüssigen, pastosen Öl- 
malerei abgelagert, deren dynamische Strömungen den 
vormals nervösen Auftrag gleichsam bezeugen. 
Dieses Vorgehen gilt es umsomehr hervorzustreichen, als 
Disler erst im Jahre 1984 von der Acrylmalerei zum Öl 
übergewechselt ist, was einen ganz anderen, kleinteiligeren 
Farbauftrag erfordert und das vorherrschende gestische 
Moment solcherart zügelt. Berührung im Winter scheint mir 
zwei Jahre später bereits ein Höchstmass von Dislers male- 
rischen Möglichkeiten auszuschöpfen und gleichzeitig an 
jene Grenze zu stossen, wo die Bildoberfläche sich in 
einem derart verdichteten Zustand befindet, dass ein 
«Weitermalen» die Tiefenschichtung aber auch die figür- 
liche «Lesbakeit», die sich bei der Betrachtung nach und 
nach einstellt. verunklären dürfte. 
Das noch 1984 bestimmende zeichnerische Element in 
Dislers Malerei findet sich fast gänzlich in dichten Energie- 
strömen aufgehoben, in einem Netz aus gerichteten 
Markierungen, aus denen sich, nach und nach in der Bild- 
tiefe ausmachbar, grosse Kopfformen befreien, deren 
Schädel sich berühren und die in der unteren Bildhälfte 
kleinere Kopfgestalten freizugeben scheinen. Sie drängen 
sich zusehends auf, wie anthropomorphe Formationen, die 
wir in einem Felsmassiv zu erkenn glauben und die uns - als 
einmal «gesehene» —- nicht mehr loslassen wollen. Aufge- 
rissen fragende Augenpaare lösen sich aus den monumen- 
talen Gesichtern in weisslich-blauem Schimmern. Ihnen 
steht das pulsierende Rot des berührenden Armes 
entgegen, das, von rechts aussen in die Bildmitte eindrin- 
gend, in den unklar zu differenzierenden Körperpartien der 
unteren Bildhälfte weiterhin mitschwingt. Die Wirkung 
der vorherrschenden Blau- und Rotpartien schwankt 
zwischen der Evokation von Kälte und ihr entgegenwir- 
kender Wärme, zwischen dem Gefühl von Gefrorenem, 
Abgelagertem und der zündenden Flamme des Erotischen, 
das dieser Kälte trotzt. Mit Grundelemente erster Natur — 
Fels, Wasser, Feuer - werden gleichsam die Beziehungen 
des Kreatürlichen zu ebendieser Natur symbolisiert: der 
flächenfüllenden, durchgehend dichten Malerei steht das 
aufgeladen Expressive gegenüber, dem Versteinerten das 
Pulsierende, dem Winterschlaf der lebendige Eros. Berüh- 
rung ist, solcherart empfunden, nicht bloss aus dem Malakt 
resultierendes Bildthema sondern Konstituierende des Mal- 
prozesses selbst. 
Im Sinne der zuvor vermuteten Schlüsselposition dieses 
Werks sei daran erinnert, dass Disler in seinem oft zitierten, 
1980 erschienenen Buch Bilder vom Maler fast programma- 
tisch formuliert hat, was meines Erachtens im vorliegenden 
Bild Jahre später nun gänzlich in der Malerei zum Tragen 
kommt: Nicht der Kopf «denkt» ein Bild, vielmehr ist es der 
Körper selbst, die auf den Körper unmittelbar bezogene 
Imagination.? Dem aus dem Unbewussten Geschöpften, das 
auf der Leinwand Farb-Form wird, steht aber immer schon 
die bewusste Suche nach der Konfrontation entgegen, nach 
dem Reiben der Körper, das die schöpferische Phantasie 
sich entzünden lässt, stets in der Schwebe zwischen 
Abstraktion und Figuration. 
Dass der «Ursprung der Kunst» im Unbewussten zu suchen 
sei, glaubt Disler so sehr wie Jackson Pollock dies tat; doch 
zielt Disler ganz objektiv auf die gegenwärtige Lebenser- 
fahrung, auf die Welt, die uns umgibt. Das Entziffern der 
«Motive», von denen er in seiner Arbeit immer wieder 
ausgeht und zu denen er durch die Malerei schichtweise 
vorstösst, erklärt aber nicht die buchstäbliche «Berührung», 
jenes Unter-die-Haut-Gehen, das seine Formulierungen in 
uns auslösen. Die eingehende Betrachtung der Ölmalerei in 
ihrer sprichwörtlichen Mehrschichtigkeit, der die Plastizität 
der aufgeworfenen Farbgrate fortwährend neue Dimen- 
sionen verleiht, vermag jedoch stets neue inhaltliche 
Zusammenhänge zu provozieren, die sich je nach Disposi- 
tion des Betrachters zugunsten anderer verflüchtigen. Das 
«Berührtsein» des Betrachters vollzieht gewissermassen den 
Schaffensprozess ein Stück weit mit nach, den Disler selbst 
in Unterscheidung auch von der eigentlichen zeichne- 
rischen Arbeit - im Gespräch für sich festgehalten hat: «Ich 
habe tatsächlich etwas wie eine Vorstellung, die nicht bild- 
lich ist, sondern wie ein Begehren, ein Wunsch, ein 
Verlangen in mir. Ich sehe einen bestimmten Wunsch, zum
	        
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