HINWEISE AUF
EINIGE NEUERWERBUNGEN
ANNETTA GIACOMETTI — 1902, 1921, 1958
Bereits in seiner Kindheit wurde Alberto Giacometti
bewusst, dass sein Verhältnis zu seiner menschlichen
Umgebung von einer gewissen Distanz geprägt war. Er
war anders als seine jüngeren Brüder, anders als seine
Mitschüler im Gymnasium in Schiers, anders als die
Kunststudenten im Atelier Bourdelle in Paris — und so
weiter. Nicht, dass er unnahbar oder ungesellig gewesen
wäre; im Gegenteil: Seine faszinierende Persönlichkeit
hat im Laufe seines Lebens so viele Künstler, Schrift-
steller, Philosophen angezogen, dass seine Lebens-
geschichte gleichzeitig zur Geistesgeschichte seiner Zeit
wurde. Wobei gleich anzufügen ist, dass Giacometti kei-
neswegs darauf ausging «Prominenz» um sich zu scharen.
Wichtig war ihm die menschliche Beziehung, ein gutes
Gespräch. Sein komplexes Verhältnis zum anderen Ge-
schlecht auch nur anzudeuten, sprengt den Rahmen die-
ser Zeilen; festgehalten werden darf, dass der Künstler
wiederholt intensive Beziehungen gesucht und durch-
litten hat. Doch ragt aus diesem ganzen zwischenmensch-
lichen Beziehungsnetz eine Gestalt heraus, die ihm zwei-
fellos zeitlebens am nächsten stand, die er wie niemanden
sonst als moralische Instanz und ruhenden Pol seiner
Existenz empfand: seine Mutter. Die Beziehung war gegen-
seitig und auf beiden Seiten gleichermassen unverbrüch-
lich, auch wenn die künstlerische Entwicklung des Sohnes
der Mutter zuweilen auch Sorgen bereitet hat.
Da Alberto Giacometti bis in seine letzte Schaffens-
phase hinein bevorzugtermassen nach Modellen gearbeitet
hat, die ihm nahestanden, erstaunt es nicht, dass seine
Mutter in seinem Schaffen auch als Gegenstand der Dar-
stellung einen prominenten Platz einnimmt. Häufiger als
die Mutter hat Alberto nur seinen Bruder Diego darge-
stellt; da dieser seit 1925 sein Leben in Paris mit ihm ge-
teilt hat und ihm als Gehilfe und Modell stets zur Ver-
fügung stand,
Annetta Giacomettis markante Gesichtszüge werden
der Nachwelt allerdings nicht einzig durch die Sicht des
Sohnes überliefert; in den Werken ihres Gatten Giovanni
Giacometti tauchen sie gleichermassen häufig auf. Aller-
dings scheint ihre Präsenz in den Bildern Giovannis einen
anderen Stellenwert zu haben als in denjenigen des Soh-
nes. Während dieser die Mutter einem Modell gleich
posieren lässt, und sie somit aus jeder Tätigkeit isoliert,
bleiben die Gemälde des Vaters weit mehr dem Genre der
häuslichen Szene verhaftet.
Dass im Berichtsjahr drei Werke Annetta darstellend,
in die Sammlung der Alberto-Giacometti-Stiftung Ein-
gang gefunden haben, möchte man somit eher als glück-
liche Fügung denn als blossen Zufall werten. Das früheste
und das späteste Zeugnis stammen aus dem Besitz der
Familie und konnten von der Paul-Büchi-Stiftung erwor-
ben werden, die sie ihrerseits der Alberto-Giacometti-
Stiftung als Dauerleihgaben überlässt. Welch ein Kon-
trast: Die gut dreissigjährige Mutter mit ihrem ersten Sohn,
Alberto, in den Armen, dargestellt vom Gatten, und
Albertos Bildnis der Mutter in ihrem 87sten Lebensjahr!
Und welch spannungsvolle Blickkontakte teilen sich dem
Betrachter mit: Aufmerksam und zärtlich blickt die glück-
liche Mutter mit einem Anflug von Lächeln auf das
Kleinkind, das seine grossen dunklen Augen auf den
malenden Vater richtet. In Albertos Bild blickt die Mut-
ter streng frontal auf den malenden Sohn: Ein Blick, der
gleichermassen direkt, fordernd und distanziert ist, dem
aber auch das Element des Staunens, des Seherischen,
nicht fremd ist, ein Blick, der von innen kommt und
auch das Verhältnis zum Sohn und dessen Entwicklung
als Künstler zu reflektieren scheint.
Giovanni Giacomettis Bild ist undeutlich datiert. Da
die stilisierte Signatur von einer geschwungenen Linie
unterstrichen wird, die von der Jahreszahl ausgeht, bleibt
es offen, ob 02 oder 03 zu lesen ist. Das Alter des am
10. Oktober 1901 geborenen Kindes spricht allerdings für
die frühe Datierung. Jedenfalls ist es das früheste Bild
von Giovannı Giacometti, das ım Kunsthaus gezeigt wer-
den kann. In der Familie des Künstlers hatte es offenbar
einen besonders geschätzten Stellenwert; es hing bis vor