THE SUBLIME IS NOW —
BARNETT NEWMANS «THE MOMENT 1»
Ein weisses Feld, zwei gelbe Striche — als Newman 1950
erstmals solche Bilder ausstellte, wandten sich ausser der
Galeristin und einer vereinzelten Journalistin, der er seine
Absichten sorgfältig erklärt hatte, alle ab; selbst seine
nächsten Künstlerkollegen wie Rothko oder Clifford Still,
für die er öffentlich Stellung genommen hatte, standen
verständnislos da und hielten dies für einen dadaistischen
Scherz. Zur Eröffnung seiner zweiten Ausstellung kamen
nur noch wenig Leute, aber nach ihrem Ende besuchte
Pollock Newman in seinem Atelier: die beiden radikal-
sten Künstler hatten sich in ihrer Bedeutung erkannt.
Allein, worin besteht diese?
Um mit den konventionellsten ästhetischen Gesichts-
punkten zu beginnen: Zwei gelbe Streifen auf einem
Leinwandrechteck derart anzubringen, dass eine künst-
lerische Spannung, ein Bild entsteht, hat offensichtlich
mit dem Qualitätsbegriff der Einfachheit zu tun. Sie zu
erreichen, ohne ins Leere oder Banale zu fallen, ist schwie-
rig; ihr zu genügen, suchen oft gerade die anspruchs-
vollsten Künstler, die «Klassiker»: die Erbauer der Pyra-
miden, die alten Griechen, Raphael, Palladio. Wo Ein-
fachheit auf ein formales Problem reduziert wird, fehlt
dem Produkt jene geistige Dimension, die man als sym-
bolische oder metaphysische bezeichnen mag. Diesen
inneren Gehalt, der zwischen visuellem Erlebnis und
Nachdenken über das Gesehene aufleuchten soll, beruht
meist auf einem ethischen oder religiösen Engagement
des Künstlers. Die Einfachheit der Kunst Mondrians etwa
wird von seinen der Anthroposophie nahestehenden
Überzeugungen getragen; in seinen Kompositionen
scheinen sich allgemeine, kosmische Harmonien zu
offenbaren. Obwohl die erste Generation der «New York
School» eine betont nicht-europäische, amerikanische
Kunst anstrebte, übernahm sie diese abendländisch
idealistischen Vorstellungen von Kunst im emphatischen
Sinne. Newman war dabei der Wortführer und verwirk-
lichte diesen Anspruch am konsequentesten.
Barnett Newman beschränkte die Bildmittel auf ein
damals neues und extremes Minimum: auf das recht-
eckige Feld der Leinwand und die senkrechte Farbteilung;
gleichzeitig steigerte er aber die Grösse des Bildes ins
Monumentale. Monumentalität und Einfachheit sollen
jene starke Wirkung erzeugen, die die Alltagserfahrung
überschreitet, den Betrachter erschüttert und für existen-
tielle Fragen öffnet. Newman steht damit in der Tradition
des angeblich von Longinos verfassten Traktates «De Sub-
{imitate», in dem diese Theorie des Erhabenen formuliert
wurde. In den subjektivistisch vorromantischen Strö-
mungen des 18. Jahrhunderts wurde sie, vor allem von
Burke und Bodmer propagiert, wieder aktuell; Füssli ist
theoretisch wie praktisch ihr wichtigster Vermittler in die
bildenden Künste. Direkt wirkte er auf Blake und Turner,
über Abilgaard wohl auch auf Caspar David Friedrich.
Auch Füssli konzentriert sich ganz auf die elementaren
Bildmittel; wenn auch die menschliche Figur im Mittel-
punkt seiner Kunst steht, spielt doch die Bildgeometrie
eine nicht geringere Rolle. In Kompositionen wie der
«Enthüllung des Bildes von Sais» gleicht die Flächen-
gliederung nicht nur formal, sondern auch in ihrer Wir-
kungsabsicht Gemälden Newmans.
Die Probleme, die durch die monumentalen Bilder
aufgerufen und gestaltet werden, sind elementar und
zielen auf die Existenz des Menschen überhaupt, auf sein
Selbstsein, seine Stellung in Raum und Zeit, auf grund-
ıegende Situationen. Die Bildtitel erleichtern dem Be-
trachter den Zugang; teils handelt es sich um allgemeine
Bestimmungen, wie «Here» oder «Moment», die im be-
wussten Nachvollzug des Bildgedankens realisiert werden,
teils um Namen mythologischer Gestalten, wie Adam,
Prometheus oder Odysseus, die für eine zentrale, im
Gemälde symbolisierte Seinserfahrung stehen. Die ikono-
graphische Grundrelation wird vom Verhältnis eines
senkrechten Streifens zur Bildfläche und ihren Farben
gebildet, Gleichnis der Position des Menschen in der
Welt. Thomas B. Hess, der frühe Biograph Newmans,
überliefert, wie dieser 1948 mit «Onement I» auf seine
Bildform stiess und während acht Monaten deren Be-
deutung durchdachte. Damals zeigte Pierre Matisse erst
mals die neuen Skulpturen Giacomettis in New York;
Hess spricht von einer «Seelenwanderung», die sich
zwischen den schmal in den Raum aufragenden Figuren
des Bildhauers und dem senkrechten orangen Pinsel
strich im rotbraunen Grund von «Onement I» ereignete.