Full text: Jahresbericht 1988 (1988)

THE SUBLIME IS NOW — 
BARNETT NEWMANS «THE MOMENT 1» 
Ein weisses Feld, zwei gelbe Striche — als Newman 1950 
erstmals solche Bilder ausstellte, wandten sich ausser der 
Galeristin und einer vereinzelten Journalistin, der er seine 
Absichten sorgfältig erklärt hatte, alle ab; selbst seine 
nächsten Künstlerkollegen wie Rothko oder Clifford Still, 
für die er öffentlich Stellung genommen hatte, standen 
verständnislos da und hielten dies für einen dadaistischen 
Scherz. Zur Eröffnung seiner zweiten Ausstellung kamen 
nur noch wenig Leute, aber nach ihrem Ende besuchte 
Pollock Newman in seinem Atelier: die beiden radikal- 
sten Künstler hatten sich in ihrer Bedeutung erkannt. 
Allein, worin besteht diese? 
Um mit den konventionellsten ästhetischen Gesichts- 
punkten zu beginnen: Zwei gelbe Streifen auf einem 
Leinwandrechteck derart anzubringen, dass eine künst- 
lerische Spannung, ein Bild entsteht, hat offensichtlich 
mit dem Qualitätsbegriff der Einfachheit zu tun. Sie zu 
erreichen, ohne ins Leere oder Banale zu fallen, ist schwie- 
rig; ihr zu genügen, suchen oft gerade die anspruchs- 
vollsten Künstler, die «Klassiker»: die Erbauer der Pyra- 
miden, die alten Griechen, Raphael, Palladio. Wo Ein- 
fachheit auf ein formales Problem reduziert wird, fehlt 
dem Produkt jene geistige Dimension, die man als sym- 
bolische oder metaphysische bezeichnen mag. Diesen 
inneren Gehalt, der zwischen visuellem Erlebnis und 
Nachdenken über das Gesehene aufleuchten soll, beruht 
meist auf einem ethischen oder religiösen Engagement 
des Künstlers. Die Einfachheit der Kunst Mondrians etwa 
wird von seinen der Anthroposophie nahestehenden 
Überzeugungen getragen; in seinen Kompositionen 
scheinen sich allgemeine, kosmische Harmonien zu 
offenbaren. Obwohl die erste Generation der «New York 
School» eine betont nicht-europäische, amerikanische 
Kunst anstrebte, übernahm sie diese abendländisch 
idealistischen Vorstellungen von Kunst im emphatischen 
Sinne. Newman war dabei der Wortführer und verwirk- 
lichte diesen Anspruch am konsequentesten. 
Barnett Newman beschränkte die Bildmittel auf ein 
damals neues und extremes Minimum: auf das recht- 
eckige Feld der Leinwand und die senkrechte Farbteilung; 
gleichzeitig steigerte er aber die Grösse des Bildes ins 
Monumentale. Monumentalität und Einfachheit sollen 
jene starke Wirkung erzeugen, die die Alltagserfahrung 
überschreitet, den Betrachter erschüttert und für existen- 
tielle Fragen öffnet. Newman steht damit in der Tradition 
des angeblich von Longinos verfassten Traktates «De Sub- 
{imitate», in dem diese Theorie des Erhabenen formuliert 
wurde. In den subjektivistisch vorromantischen Strö- 
mungen des 18. Jahrhunderts wurde sie, vor allem von 
Burke und Bodmer propagiert, wieder aktuell; Füssli ist 
theoretisch wie praktisch ihr wichtigster Vermittler in die 
bildenden Künste. Direkt wirkte er auf Blake und Turner, 
über Abilgaard wohl auch auf Caspar David Friedrich. 
Auch Füssli konzentriert sich ganz auf die elementaren 
Bildmittel; wenn auch die menschliche Figur im Mittel- 
punkt seiner Kunst steht, spielt doch die Bildgeometrie 
eine nicht geringere Rolle. In Kompositionen wie der 
«Enthüllung des Bildes von Sais» gleicht die Flächen- 
gliederung nicht nur formal, sondern auch in ihrer Wir- 
kungsabsicht Gemälden Newmans. 
Die Probleme, die durch die monumentalen Bilder 
aufgerufen und gestaltet werden, sind elementar und 
zielen auf die Existenz des Menschen überhaupt, auf sein 
Selbstsein, seine Stellung in Raum und Zeit, auf grund- 
ıegende Situationen. Die Bildtitel erleichtern dem Be- 
trachter den Zugang; teils handelt es sich um allgemeine 
Bestimmungen, wie «Here» oder «Moment», die im be- 
wussten Nachvollzug des Bildgedankens realisiert werden, 
teils um Namen mythologischer Gestalten, wie Adam, 
Prometheus oder Odysseus, die für eine zentrale, im 
Gemälde symbolisierte Seinserfahrung stehen. Die ikono- 
graphische Grundrelation wird vom Verhältnis eines 
senkrechten Streifens zur Bildfläche und ihren Farben 
gebildet, Gleichnis der Position des Menschen in der 
Welt. Thomas B. Hess, der frühe Biograph Newmans, 
überliefert, wie dieser 1948 mit «Onement I» auf seine 
Bildform stiess und während acht Monaten deren Be- 
deutung durchdachte. Damals zeigte Pierre Matisse erst 
mals die neuen Skulpturen Giacomettis in New York; 
Hess spricht von einer «Seelenwanderung», die sich 
zwischen den schmal in den Raum aufragenden Figuren 
des Bildhauers und dem senkrechten orangen Pinsel 
strich im rotbraunen Grund von «Onement I» ereignete.
	        
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