Volltext: Jahresbericht 1988 (1988)

ZU DEN ZEICHNUNGEN VON ENZO CUCCHI 
Der 1950 in Morro d’Alba bei Ancona geborene Enzo 
Cucchi war Ende der siebziger Jahre zusammen mit 
Chia, Clemente, De Maria und Paladino im Zuge der 
sogenannten «Transavantgarde» ins Blickfeld getreten. 
Nach der Vorherrschaft der amerikanischen Kunst seit 
den fünfziger Jahren und einem allerorts angestrebten 
«Internationalismus» griffen die italienischen Künstler 
wieder verstärkt auf ihre eigenen Traditionen zurück. So 
erstaunt es nicht, wenn man Cucchi mit Bewunderung 
von De Chirico und Carlo Carra sprechen hört oder 
auch von anderen Künstlern der dreissiger Jahre, wie 
Scipione oder Sironi. Ähnlich wie die Maler der Pittura 
Metafisica zieht ihn die frühe italienische Malerei an, 
insbesondere Giotto und Piero della Francesca. Die 
Rückkehr zu den Bildern der italienischen Tradition wird 
begleitet von der Wiederentdeckung der Mythen, die als 
geistiges Potential verstanden werden, ein nur rationales 
Weltverständnis zu überwinden. 
Im Zusammenhang mit unserer Retrospektive der 
Zeichnungen von Enzo Cucchi erwarben wir für die 
Graphische Sammlung eine Gruppe von 12 Blättern aus 
den Jahren 1985 bis 1988, womit unser Bestand an frühen 
Werken bedeutend erweitert werden konnte. Die Zeich- 
nungen standen von Anfang an im Zentrum von Cucchis 
Arbeit. Als Fundament seines künstlerischen Schaffens 
geben sie direkten Einblick in den Entstehungsprozess 
seiner Bildwelt. Für ihn ist die Zeichnung etwas Exi- 
stentielles, gekoppelt an weitreichende Vorstellungen von 
ihren Möglichkeiten. Sie ist «die wahre, existentielle 
Seele eines Malers». Sie soll nicht erzählen, soll auch 
nichts illustrieren oder beschreiben. Mit der Konzen- 
tration auf das Zeichen, das «segno», ist sie ein «Ort des 
Mysteriums», denn auch wenn in ihr Realität wieder- 
gegeben wird, entsteht daraus gleichzeitig etwas «Un- 
glaubliches, die Grenzen Überschreitendes», wie Cucchi 
in unseren Gesprächen meint. Das Zeichen steht in Ver- 
bindung mit der «memoria», der Erinnerung. Dieser für 
Cucchi wichtige Begriff bedeutet nicht in erster Linie die 
eigene Erinnerung, sondern das Verwurzeltsein in einer 
jahrtausendealten Tradition, die wir in uns tragen. Er 
hat die Vorstellung, dass das, was einmal war, auch bleibt. 
Seitdem er längere Zeit des Jahres in Rom lebt, ist er 
ständig von dieser geschichtlich gewachsenen Tradition 
umgeben. 
Cucchis Zeichnungen lassen sich nicht in einer ein- 
deutigen Aussage festlegen, und sie sind ganz offensicht- 
lich nicht allein über den Intellekt zugänglich. Wichtig 
ist, dass ihre Botschaften assoziative Phantasien und 
emotionale Prozesse beim Betrachter auslösen, die er zu 
einer neuen Erfahrung verarbeiten kann. Bei der Inter- 
pretation der Werke hat man immer wieder auf die For- 
mulierung von den Mythen und Legenden seiner Heimat 
zurückgegriffen. Eine eingehende Beschäftigung mit sei- 
nen Bildern ergibt jedoch, dass er fast nie spezifische 
Mythen oder Legenden zum Ausgangspunkt nimmt. Es 
kommen eher «innere Visionen», archetypische Bilder 
und Metaphern zum Ausdruck. So beschäftigt sich 
Cucchi seit den frühesten Zeichnungen mit dem Berg. 
Ihn interessiert dabei nicht die Beschreibung der äusse- 
ren Erscheinung. Obwohl in den sanft gerundeten Hügeln 
der frühen Werke Anregungen aus der Landschaft seiner 
Heimat, den Marken, verarbeitet sind, geht es ihm nicht 
um das Abbild eines realen Berges. In seinen Bildern wird 
der Berg zu einem Zeichen, in dem seine Vergangenheit 
und seine Gegenwart in eins gesetzt sind. Für ihn gehören 
die Berge «zu den grossen Dingen des Lebens», sie sind 
eine «Legende». In ihrem Emporragen scheinen sie eine 
Verbindung mit dem Himmel herstellen zu wollen. «Den 
Göttern näher», wie ein Bildtitel lautet, rücken auch die 
Vögel, die in der Zeichnung von 1988 auf den Bergspitzen 
sitzen (vgl. Abb. 20). In ihren Anblick versunken steht 
auf einer tieferen Ebene — vor einem über dem Horizont 
aufsteigenden Gestirn — eine doppelköpfige Kindgestalt. 
Aus ihrer linken Kopfhälfte wächst ein Blatt heraus, und 
vom Rückgrat her steigt über die rechte Kopfhälfte eine 
gepunktete Linie empor — grenzüberschreitend. Cucchi 
nennt diese «Perlenschnur», die er seit 1986 immer wieder 
aufnimmt, «linea cosmica», kosmische Linie. Im An- 
schluss daran erscheint das Rückgrat der Figur wie ıhre 
«kosmische Linie», eine Metapher für die Dualität des 
Menschen zwischen Himmel und Erde. In einer anderen 
Zeichnung stehen solche doppelköpfige Wesen in direk- 
ter Beziehung zu den Gipfeln von sechs übereinander- 
zestaffelten Bergen. deren oberster bis in die Wolken
	        
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