hineinreicht. Was als Idee von Wachstum und Frucht-
barkeit mit der Blattpflanze angedeutet ist, wird in wei-
teren Zeichnungen mit «Baummenschen», das heisst
Bäumen mit menschlichen Köpfen, verdeutlicht.! Sie
verkörpern die Vorstellung von Leben, das von einer
Form in eine andere übergeht.
Dadurch, dass die Darstellung nicht mehr logischen
und linear narrativen Gesetzen folgt, entsteht eine Atmo-
sphäre, die der Betrachter mehr assoziativ als rational
erfassen kann und die ihm neue Formen der Erkenntnis
Sffnet. Mit der irrealen Durchdringung nicht zusammen-
gehörender und grössenmässig unterschiedlicher Bild-
elemente und mit der Konzentration auf wenige gross
gesehene «Zeichen» gelingt es Cucchi, diese geistigen In-
halte in überzeugender Weise ins Bild zu bringen. Dem
Berggipfel steht in vielen Zeichnungen der Abgrund
gegenüber, dem Aufsteigen das Stürzen und der Abstieg.
Das Hinabsteigen in die Tiefe, in die Unterwelt, wird
meist mit den Vorstellungen von Wiedergeburt und Un-
sterblichkeit verbunden. Es kann aber auch die Suche
nach dem eigenen Selbst bedeuten.?
Seit den frühesten Arbeiten gehört auch das Haus
zum festen Bestand von Cucchis Bildwelt. Es ist nicht
nur ein Ort des Schutzes und der Zuflucht, sondern es
dehnt sich auch — meist langgezogen und schmal — zwi-
schen verschiedenen Räumen und Zeiten. Als nach oben
gerichteter Stab, wie in einigen unserer Zeichnungen,
wird es zur Metapher, in der die Suche des Menschen
nach Transzendenz zum Ausdruck kommt. Auch das
immer wiederkehrende Motiv des Baumes, den Cucchi
in seiner emporragenden Grösse betont — meist wählt er
dabei die schlanke, hohe Zypresse — wird zum Bild, in
welchem der Mensch seine existentielle Situation zwi-
schen Erde und Himmel wieder erkennen kann.
In drei der angekauften Zeichnungen sind grosse
stein- oder eiförmige Objekte die beherrschenden Bild-
zlemente. Diese Zeichen, die sich einer eindeutigen Inter-
pretation entziehen, sind zu einem regelrechten Leitmotiv
in Cucchis Werk geworden. Man empfindet sie zuweilen
wegen der harten Konsistenz als Steine, in anderen Blät-
tern erscheinen sie als lebendige Materie, die eine weib-
üche Symbolik nahelegen, oder sie lassen als schwebende
Formen an Wolken denken. Je nach Bildzusammenhang
wandeln sich ihre Erscheinungsformen und ihre Bedeu
tungen. Immer aber geht etwas Geheimnisvolles, oft auch
etwas Unberechenbares und Bedrohliches von ihnen aus
Eine grossformatige Zeichnung von 1980, in der ein Mann
sich mit den Händen wie beschwörend diesem Stein
nähert, als ob er das Geheimnis, das er enthält, lüfter
wolle, trägt den Titel «Etwas Heiliges zwischen den Hän-
den».? Steine sind auch häufig Bilder für das Selbst unc
symbolisieren vielleicht «das einfachste und zugleich
tiefste Erlebnis von etwas Ewigem und Unwandelbarem,
das ein Mensch haben kann».* Innerhalb der vielfältigen
Symbolik des Steins ist speziell der Stein der Weisen ein
berühmtes Bild der inneren Ganzheit.
In den beiden Zeichnungen von 1985 und von 1986
(Abb. 18, 21) bringt eine geheimnisvolle Energie den
«Stein» zum Schweben, und er erscheint als die Verkör-
perung aller Sehnsüchte, die sich auf das Transzendente
richten. Auffallend ist in der einen Zeichnung, dass das
stein- oder wolkenförmige Objekt, das in den bisherigen
Blättern als kompakte schwarze Masse erschien, sich nun
an einer Stelle öffnet und Einblick in sein Inneres ge-
währt. Was das Ei in diesem augenförmigen Loch aus-
brütet, ist noch nicht zu erkennen. In späteren Zeich-
nungen werden in den Öffnungen Tiere sichtbar, ein
kleiner Elefant oder ein Kamel.> Cucchi schreibt in einem
Gedicht «Un’immagine oscura» 1982, das sich auf die
grossformatige Radierung gleichen Titels bezieht, in deı
ebenfalls ein grosser schwarzer Stein über der Landschafli
schwebt: «Ein unendlich weites Meer von schwarzen
Steinen, die verschlungen werden, um sich auf geheim:
nisvolle Weise in eine schwarze Erscheinung am Him-
mel... zu verwandeln.» Das deutet darauf hin, dass deı
«Stein» am Kreislauf von Tod und Auferstehung teilhat.
Der in der Leere aufgerichtete Stein in der Zeichnung
von 1986 (vgl. Abb. 19) weckt Assoziationen an das Welten-
Ei, das als Keim aller Schöpfung, als Lebensprinzip gilt,
oder auch an den Gral, der im allgemeinen das Aller-
heiligste und die Wasser des Lebens symbolisiert. Die
niedergebeugten Figuren nähern sich dem Wasserlauf
wie Dürstende. Ihre expressiven Körperhaltungen erin-
nern im ersten Augenblick an die berühmte Figur des
«Gestürzten», 1915/16 von Wilhelm Lehmbruck, die die-
ser in zahlreichen Zeichnungen vorbereitet hat.° Doch