scheint sie zu überwältigen; im grossen Bild zeigt sie mit
der Rechten zu ihrem Gemahl, mit der linken aber nach un-
ren. Das Zurückblicken der Eurydike drückt Mitgefühl und
Dankbarkeit aus; zugleich nimmt es das fatale Zurück-
blicken vorweg, das Orpheus entgegen Plutos Verbot nicht
unterlassen konnte und das ihm seine Geliebte zum
andern Mal raubte. Die zur natürlichen Bewegung nach
vechts gegenläufige Richtung des Paares deutet gleichfalls
auf den unglücklichen Verlauf.
Die Ölskizze entstand für den umfangreichsten Auftrag,
den Rubens je erhalten: 1636 bestellte König Philipp IV.
von Spanien für sein Jagdschloss Torre de la Parada unweit
Madrid über sechzig grosse Bilder mit Themen aus Ovids
«Metamorphosen». Während die meisten nach Rubens’
Modellen von Werkstattmitarbeitern gemalt wurden, griff
er, wie bemerkt, bei «Orpheus und Eurydike» auch in die
Ausführung ein, wobei er vor allem die Zwiesprache der
beiden Frauen herausarbeitete und zugleich die Bezie-
hungen zwischen den Ehegatten verdichtete. Die unmittel-
bare Konfrontation elementarer Lebensmächte, Liebe und
Tod, rührten ihn offensichtlich tiefer an als andere
Themen, hatte doch auch er den Verlust der engvertrauten
Gattin erfahren müssen. Eurydike verlieh er die Gestalt der
antiken Statue der Venus pudica und wies so auf die hier
selbst in der Unterwelt wirksam gewordene Macht der
Liebe hin. Die gleiche Figur aber bildete er in dem
berühmten, «het pelsken» genannten Bild von Helene
Fourment in Wien nach, mit dem er wenige Jahre zuvor die
Wiederauferstehung seines Eheglücks feierte. Und so
strahlt von seiner Liebe und Lebendigkeit durch die rätsel-
hafte Macht seiner Kunst in der wiedergewonnenen
Ölskizze ein Abglanz bis zu uns und mahnt durch ihre
wechselhaften Geschicke und die von ihr erzählten
Geschichte, sie zu geniessen, bevor sie oder wir erneut
durch die chthonischen Gewalten entrückt werden. Und
davor sichert uns auch der heute elektronisch aktualisierte
Cerberus, der dreiköpfige Höllenhund, der unten rechts an
der Leine liegt, nicht.
Christian Klemm
Literatur:
Julius S. Held: The Oil Sketches of Peter Paul Rubens. A Critical
Catalogue (Princeton 1980) p. 288s, no. 206.
Svetlana Alpers: The Decoration of the Torre de la Parada (Brüssel
1971:= Corpus Rubenianum Ludwig Burchard IX) p. 245s, no. 46a.
EIN MALER IM ATELIER
Nach der Rückkehr der Ölskizze von Rubens stellte sich die
Frage, was mit dem 1986 für die «Heilige Familie» nicht
benötigten Versicherungsgeld geschehen soll. Gemäss den
Statuten der Ruzicka-Stiftung sind allfällige Geldmittel für
ältere niederländische Gemälde zu verwenden — doch wie
mit dem relativ geringen Betrag eine dem hohen Qualitäts-
niveau der Sammlung genügende, sinnvolle Ergänzung
finden? Da wies uns ein Zufall die Lösung: Bei einer Zür-
cher Galerie tauchte ein zwar schon im 18. Jahrhundert
bezeugtes, aber seit Generationen verschollenes Selbst-
bildnis Lingelbachs auf, in dem er sich beim Geigenspiel in
seinem Römer Atelier darstellte. Eine grosszügige Spende
von Frau Ruzicka und das freundliche Entgegenkommen
von Bruno Meissner ermöglichten seine Erwerbung.!
Nun kann man im Kunsthaus dank den Stiftungen von
Professor Leopold Ruzicka und von Frau und Herrn
Koetser treffliche Beispiele aller wichtigen Stilrichtungen
und Gattungen aus der Blütezeit der niederländischen
Malerei geniessen: Historien, bäurisches und bürgerliches
Genre, Ausdrucks-Halbfigur und Bildnis, Landschaften
and Stilleben. Das ungewöhnlich stimmungsvolle Inte-
rieur von Brekelenkam zeigt auch, wie diese Bilder
ursprünglich die Häuser zierten — doch einen Einblick in
den Ort ihres Entstehens suchte man bisher vergeblich.
Dabei kennt man aus keiner Zeit der älteren Kunst so inter-
essante Atelierdarstellungen; es wäre ja auch erstaunlich,
wenn die Holländer, die so vieles in Natur und Umwelt
erstmals zum Thema von Bildern machten, ihre nächste
Umgebung übersehen hätten. Lingelbach zeigt einen ähn-
{ich geometrisch streng begrenzten Raum wie Terborch in
seinem Herrenbildnis; doch bedeutet dessen Schlichtheit
vornehme Zurückhaltung, wie sie selbst dem reichsten
Handelsherrn bis in die Jahrhundertmitte ziemte, so ent-
hüllt sie hier das handwerksmässig Einfache und Zweck-
mässige. Simpel sind der rohe Holztisch mit dem Stuhl
und die Staffelei einfachster Konstruktion; ausser dem
Wandtablar gibt es afı Mobiliar sonst nur noch die Unter-
lage, auf der ein Gehilfe Farben reibt: eine mühsame und
zeitaufwendige Tätigkeit bis zur Verbreitung der Industrie-
Grben im 19. Jahrhundert. Solch leere Ateliers finden sich
auf Haarlemer Bildern der dreissiger Jahre; die eindrück-