Volltext: Jahresbericht 1989 (1989)

scheint sie zu überwältigen; im grossen Bild zeigt sie mit 
der Rechten zu ihrem Gemahl, mit der linken aber nach un- 
ren. Das Zurückblicken der Eurydike drückt Mitgefühl und 
Dankbarkeit aus; zugleich nimmt es das fatale Zurück- 
blicken vorweg, das Orpheus entgegen Plutos Verbot nicht 
unterlassen konnte und das ihm seine Geliebte zum 
andern Mal raubte. Die zur natürlichen Bewegung nach 
vechts gegenläufige Richtung des Paares deutet gleichfalls 
auf den unglücklichen Verlauf. 
Die Ölskizze entstand für den umfangreichsten Auftrag, 
den Rubens je erhalten: 1636 bestellte König Philipp IV. 
von Spanien für sein Jagdschloss Torre de la Parada unweit 
Madrid über sechzig grosse Bilder mit Themen aus Ovids 
«Metamorphosen». Während die meisten nach Rubens’ 
Modellen von Werkstattmitarbeitern gemalt wurden, griff 
er, wie bemerkt, bei «Orpheus und Eurydike» auch in die 
Ausführung ein, wobei er vor allem die Zwiesprache der 
beiden Frauen herausarbeitete und zugleich die Bezie- 
hungen zwischen den Ehegatten verdichtete. Die unmittel- 
bare Konfrontation elementarer Lebensmächte, Liebe und 
Tod, rührten ihn offensichtlich tiefer an als andere 
Themen, hatte doch auch er den Verlust der engvertrauten 
Gattin erfahren müssen. Eurydike verlieh er die Gestalt der 
antiken Statue der Venus pudica und wies so auf die hier 
selbst in der Unterwelt wirksam gewordene Macht der 
Liebe hin. Die gleiche Figur aber bildete er in dem 
berühmten, «het pelsken» genannten Bild von Helene 
Fourment in Wien nach, mit dem er wenige Jahre zuvor die 
Wiederauferstehung seines Eheglücks feierte. Und so 
strahlt von seiner Liebe und Lebendigkeit durch die rätsel- 
hafte Macht seiner Kunst in der wiedergewonnenen 
Ölskizze ein Abglanz bis zu uns und mahnt durch ihre 
wechselhaften Geschicke und die von ihr erzählten 
Geschichte, sie zu geniessen, bevor sie oder wir erneut 
durch die chthonischen Gewalten entrückt werden. Und 
davor sichert uns auch der heute elektronisch aktualisierte 
Cerberus, der dreiköpfige Höllenhund, der unten rechts an 
der Leine liegt, nicht. 
Christian Klemm 
Literatur: 
Julius S. Held: The Oil Sketches of Peter Paul Rubens. A Critical 
Catalogue (Princeton 1980) p. 288s, no. 206. 
Svetlana Alpers: The Decoration of the Torre de la Parada (Brüssel 
1971:= Corpus Rubenianum Ludwig Burchard IX) p. 245s, no. 46a. 
EIN MALER IM ATELIER 
Nach der Rückkehr der Ölskizze von Rubens stellte sich die 
Frage, was mit dem 1986 für die «Heilige Familie» nicht 
benötigten Versicherungsgeld geschehen soll. Gemäss den 
Statuten der Ruzicka-Stiftung sind allfällige Geldmittel für 
ältere niederländische Gemälde zu verwenden — doch wie 
mit dem relativ geringen Betrag eine dem hohen Qualitäts- 
niveau der Sammlung genügende, sinnvolle Ergänzung 
finden? Da wies uns ein Zufall die Lösung: Bei einer Zür- 
cher Galerie tauchte ein zwar schon im 18. Jahrhundert 
bezeugtes, aber seit Generationen verschollenes Selbst- 
bildnis Lingelbachs auf, in dem er sich beim Geigenspiel in 
seinem Römer Atelier darstellte. Eine grosszügige Spende 
von Frau Ruzicka und das freundliche Entgegenkommen 
von Bruno Meissner ermöglichten seine Erwerbung.! 
Nun kann man im Kunsthaus dank den Stiftungen von 
Professor Leopold Ruzicka und von Frau und Herrn 
Koetser treffliche Beispiele aller wichtigen Stilrichtungen 
und Gattungen aus der Blütezeit der niederländischen 
Malerei geniessen: Historien, bäurisches und bürgerliches 
Genre, Ausdrucks-Halbfigur und Bildnis, Landschaften 
and Stilleben. Das ungewöhnlich stimmungsvolle Inte- 
rieur von Brekelenkam zeigt auch, wie diese Bilder 
ursprünglich die Häuser zierten — doch einen Einblick in 
den Ort ihres Entstehens suchte man bisher vergeblich. 
Dabei kennt man aus keiner Zeit der älteren Kunst so inter- 
essante Atelierdarstellungen; es wäre ja auch erstaunlich, 
wenn die Holländer, die so vieles in Natur und Umwelt 
erstmals zum Thema von Bildern machten, ihre nächste 
Umgebung übersehen hätten. Lingelbach zeigt einen ähn- 
{ich geometrisch streng begrenzten Raum wie Terborch in 
seinem Herrenbildnis; doch bedeutet dessen Schlichtheit 
vornehme Zurückhaltung, wie sie selbst dem reichsten 
Handelsherrn bis in die Jahrhundertmitte ziemte, so ent- 
hüllt sie hier das handwerksmässig Einfache und Zweck- 
mässige. Simpel sind der rohe Holztisch mit dem Stuhl 
und die Staffelei einfachster Konstruktion; ausser dem 
Wandtablar gibt es afı Mobiliar sonst nur noch die Unter- 
lage, auf der ein Gehilfe Farben reibt: eine mühsame und 
zeitaufwendige Tätigkeit bis zur Verbreitung der Industrie- 
Grben im 19. Jahrhundert. Solch leere Ateliers finden sich 
auf Haarlemer Bildern der dreissiger Jahre; die eindrück-
	        
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