Full text: Jahresbericht 1989 (1989)

bereit, aber statt des Arbeitskittels, der an der Wand hängt, 
trägt er ein gepflegtes Ausgangskleid: obwohl Maler des 
niedrigen Lebens, zeigt er selbstverständlich wie alle seine 
Kollegen bei gleicher Gelegenheit seinen höheren Stand 
an.!l Dass es sich bei der Malerei nicht um eine «ars mecha- 
nica» — wie etwa das Farbenherstellen —-, sondern um eine 
«freie Kunst» handelt, demonstrieren auch die Mappen mit 
Studien und die Gipsabgüsse nach antiken Figuren und 
Köpfen, Inbegriffe der Wissenschaft der Anatomie und der 
klassischen Menschenbildung. In diesen höheren Bereich 
gehört auch die Musik, die einerseits ähnliche Gesetzmäs- 
sigkeiten wie die Malerei aufweist, etwa Proportion, Har- 
monie, Ausdruck, andrerseits aber dem Maler zur Inspira- 
tion dient.? Denn dieser neigt wie die Gelehrten zur 
Melancholie, zum «Hintersinnen», und dagegen hilft das 
Musizieren. So erzählt Sandrart gerade von Pieter van Laer, 
dass er durch «stäte Betrachtung und Nachsinnung aber 
seinen Verstand zu viel aufgebürdet / welchen Last er doch 
sich selbst mit der Music, sonderlich mit einer Violin 
erleuchtet».!? Seine merkwürdig geringe Produktivität und 
das rätselhafte, auf Selbstmord deutende Verschwinden 
lassen befürchten, dass die Therapie der Krankheit letztlich 
nicht gewachsen war. Auf Inspiration mag auch die Nei- 
gung des Kopfes, die gross geöffneten Augen und der Blick 
über die Schulter, der freilich zugleich durch die Selbstbe- 
obachtung im Spiegel motiviert wird, deuten.!* 
Die Klassizisten oder strengen Akademiker, die um die 
Mitte des 17. Jahrhunderts auch in Holland einflussreicher 
wurden, kritisierten nicht nur das niedrige Genre, sondern 
auch die Inspiration mit sinnlichen Mitteln, zu denen auch 
die Musik gezählt werden kann. Sie halte von der Arbeit ab 
und verführe zum Genussleben, das die Künstler als sinn- 
lich besonders empfängliche Menschen sowieso bedrohe. 
Ausgesprochen in diese Richtung weisen die häuslichen 
Schlappen, die der sonst gepflegt Gekleidete merkwürdi- 
gerweise vorzeigt. Und was sollen die Fetzen zerrissenen Pa- 
piers am Boden? Deuten auch sie auf unordentliche Ver- 
hältnisse, sind sie nur realistisches Detail, wie es etwa ın 
Sweerts Atelierbildern zu finden ist, oder liegen da gar die 
von den Akademikern geforderten Vorstudien, die zugun- 
sten der musikalischen Inspiration verworfen werden? Und 
da wir eben den Schritt über das historisch-kritisch Beleg- 
bare hinaus gewagt haben, sei auch das so auffällige 
Wippen mit dem Stuhl ins Auge gefasst: auch dieses mag 
undezent sein, zugleich wird es aber durch die Gegenbewe- 
gung von Staffelei, Fenster und Lichteinfall wieder harmo- 
nisch aufgefangen, Gegenbewegungen in der Musik oder 
dem Kontrapost antiker Figuren vergleichbar: mit dem 
Borghesischen Fechter auf dem Wandtablar wird das 
Extrembeispiel dafür ins Bild gerückt. 
So sehen wir etwa im Vergleich zu der lustigen Kinder- 
gruppe von Molenaer hier jenes höhere Bewusstsein für 
künstlerische Probleme wirksam, das der Aufenthalt in Ita- 
lien den holländischen Künstlern vermittelte. Das Kost- 
barste, das die Begegnung mit der südlichen Kunst zeitigte, 
die dichtere Stimmung und das wärmere Licht, durch- 
strahlt auch das Atelier von Lingelbach und reiht es als 
kleines, aber würdiges Glied in die Meisterwerke des 
«Golden Eeuw» der Ruzicka-Stiftung ein. 
Christian Klemm 
Anmerkungen 
'! ÖlaufEichenholz, 35 x 25 cm. Signiert unten rechts in der für die frühe- 
ren Werke charakteristischen Kursive «J Lingelbach 1650». — Nach Aus- 
kunft der Galerie Meissner stammt das Bild aus einer Privatsammlung in 
Washington. Die ältere Provenienz nach Catja Burger-Wegener: Johan: 
nes Lingelbach (1622-1674) (Diss. Berlin 1976) Kat. Nr. 232, 5.342; 
Sammlung Freiherr von Brabeck (Katalog 1792 S.46, Nr.45); Graf 
A. von Stolberg, Sölder; Versteigerung in Hannover 31.10.1859 Nr. 153 
(173 Thaler). 
* Über das Leben und die Familienunternehmung unterrichtet Burger- 
Wegener (wie Anm. 1) 5.920. 
$ Dass also diese Uhr, das bedeutungsschwangerste Objekt des Bildes, of- 
fensichtlich primär biographisch zu begründen ist, gilt es gegenüber der 
ikonologischen Tendenz von Raupp u.a., die Wirklichkeitswiedergabe 
ganz hinteremblematischen Bedeutungen verschwinden zu lassen, fest- 
zuhalten. In seinem Buch (s. Anm. 11) findet sich auf keiner Abbildung 
eine Wanduhr, in Masters of the 17th century Dutch Genre Painting 
/Ausst.Kat. Philadelphia, London, Berlin 1984) nur eine einzige (Nr. 85° 
Steen). 
; Arnold Houbraken: Grosse Schouburgh der niederländischen Maler 
und Malerinnen (! 1718; ed. Alfred von Wurzbach, Wien 1880) S. 446, 
Lingelbachs Leben S. 221. —Zum nächsten Satz ist freilich zu beachten, 
dass Houbraken mit van de Velde möglicherweise Andriaen meint: von 
ihm stammt die Staffage der Landschaft Wijnants der Sammlung 
Koetser. 
>Zu diesen Künstlern G. Briganti / L. Trezzani / L. Laureati: The Bamboc- 
cianti. The Painters of Everyday Life in 17th century Rome (Rom 1983), 
ferner Renate Trnek: Die Niederländer in Italien. Italianisante Nieder- 
länder des 17.Jh. aus öÖsterreichischem Besitz (Ausst. Kat. Salzburg. 
Wien 1986). Eine Ausstellung zum Thema bereitet das Wallraf-Richartz- 
Museum in Köln vor.
	        
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