Volltext: Jahresbericht 1989 (1989)

SERGE POLIAKOFF «COMPOSITION EN BLEU» 
MARK TOBEY «WHITE WRITING» 
Als sich in den späten vierziger Jahren die Grenzen wieder 
öffneten und der durch die Kriegsjahre geschürte Hunger 
nach internationaler kultureller Information gestillt 
werden konnte, richtete sich hierzulande die Blickrichtung 
der an neuer Kunst Interessierten nach Westen: In Paris 
erkannte man den virulentesten Brennpunkt zukunftswei- 
sender künstlerischer Recherchen — dass sich in New York 
gleichzeitig eine noch radikalere und folgenreichere Auf- 
bruchstimmung manifestierte, wurde wenig später stau- 
nend, zum Teil auch widerwillig, zur Kenntnis genommen. 
Es war die Zeit der informativen Gruppenausstellungen, 
die das Bild der Nachkriegs-Kunst entwarfen und in der 
Folge für lange Zeit prägten. In Bern organisierte Arnold 
Rüdlinger die heute beinahe legendäre und vielzitierte Aus- 
stellungsreihe der «Tendences actuelles»; während die 
beiden ersten Ausstellungen dieser Reihe, die 1952 und 
1954 durchgeführt wurden, mit vollem Titel «Tendences 
actuelles de P’&cole de Paris» hiessen, so entfiel die zweite 
Hälfte des Titels in der dritten Auflage von 1955, als erst- 
mals neben den Europäern Bryen, Mathieu, Michaux und 
Wols auch amerikanische Künstlerpersönlichkeiten wie 
Pollock und Tobey vorgestellt wurden. 
Im Kunsthaus Zürich zeigte Rene Wehrli 1952 die Aus- 
stellung «Malerei in Paris — heute». Diese Veranstaltung 
blieb nicht ohne Folgen für den Ausbau unserer Samm- 
lung. Aus der Ausstellung selbst wurde je ein Werk von 
Nicolas de Stael und Pierre Soulages erworben —die ersten 
Bilder der internationalen Nachkriegskunst, die Eingang in 
die Kunsthaussammlung fanden. Die damals begonnene 
Aufbauarbeit wurde in den folgenden Jahren fortgesetzt; 
noch in den fünfziger Jahren wurden Werke von Jean 
Dubuffet, Zoltan Kemeny, Georges Mathieu, Ben 
Nicholson, Pablo Palazuelo, Jean-Paul Riopelle und Wols 
in die Sammlung aufgenommen. 
Wenn wir in diesem Jahr die Freude haben, zwei Werke 
von zwei Künstlern, die die fünfziger Jahre massgeblich 
mitgeprägt haben, als Geschenke entgegennehmen zu 
können, so handelt es sich um zwei Künstler, die in jener 
Dekade noch nicht Eingang in die Sammlung gefunden 
haben. 1965 gelangte als Legat von Dr. Carlo Fleischmann 
das bislang einzige Bild von Serge Poliakoff «Bleu mono- 
chrome» 1955, in die Kunsthaus-Sammlung; Mark Tobey 
hingegen ist in der Sammlung bis im Berichtsjahr nicht per- 
manent vertreten, wobei zu erinnern ist, dass zu dem ver- 
sprochenen Legat von Erna und Curt Burgauer das sehr 
zarte Werk «Tablet» von 1961 gehört. Die Sammlung hat 
somit durch die beiden Gemälde eine wesentliche Inten- 
sivierung der Darstellung der Situation um 1950 erfahren. 
Auch wenn es methodisch nicht ganz unbedenklich ist, 
zwei Werke, die durch Zufall in eine gemeinsame Betrach- 
tung einbezogen werden, miteinander zu vergleichen, so ist 
es doch recht reizvoll, an die so unterschiedliche Rezep- 
tions-Geschichte dieser beiden Künstler zu erinnern. Polia- 
koff galt bereits in den frühen fünfziger Jahren als Hauptex- 
ponent der neuen «Ecole de Paris», Tobey, an der Westküste 
Amerikas wirkend, wurde hingegen lange Zeit unterschätzt 
und in Europa erst nach den in New York und Washington 
wirkenden «Amerikanern» entdeckt. Auch wenn Tobey 
seinen Lebensabend in Basel verbracht und deshalb gerade 
in der Schweiz viele Beziehungen gepflegt hat, so ist sein 
Name doch nie ganz seiner wirklichen Bedeutung entspre- 
chend populär geworden. Er hat sich aber einen besonders 
treuen Kreis von Liebhabern erworben und erhalten 
können. Wie ganz anders Serge Poliakoff! Der frühe Ruhm 
ist einer Phase der Vernachlässigung gewichen und erst in 
allerjüngster Zeit haben seine Werke an Auktionen wieder 
bedeutende Preise erzielen können. Schon in den frühen 
fünfziger Jahren war ja seine Reputation nicht ganz unbe- 
stritten. Sehr treffend scheint mir Max Eichenberger die 
Situation 1952 erfasst zu haben, als er in einer Reihe von 
essayistischen Kurzportraits der damals im Kunsthaus aus- 
stellenden Künstler schrieb: «Poliakoff ist heute der durch 
Akklamation ernannte Kosakenhetman der Pariser Jungab- 
strakten». Schlägt nicht in dem gesucht gelehrten und 
zugleich saloppen Begriff des «Kosakenhetmans» präzis 
jene Stimmung durch, die damals offensichtlich vor- 
herrschte? Man bewunderte Poliakoff, spürte seine Kraft, 
ine der zentralen Persönlichkeiten zu sein; aber in seiner 
Beförderung zum Kosakenhäuptling der Jung-Abstrakten 
schlägt auch eine gewisse Skepsis durch.
	        
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