Volltext: Jahresbericht 1989 (1989)

Eigentlich ist es erstaunlich, wie wenig fundiert noch 
heute (nach 40 Jahren!) die damalige Situation in der kunst- 
wissenschaftlichen Literatur erfasst ist. Nicht nur Poliakoff, 
sondern die ganze damalige Ecole de Paris hat in ihrer Wert- 
schätzung Höhen und Tiefen erlebt, und wenn heute rich- 
tigerweise das Interesse wieder am Steigen ist, SO ist zwei- 
fellos eher die vermittelnde Ausstellungstätigkeit der 
Museen an der Aufarbeitung der Nachkriegszeit beteiligt 
als der theoretisch und analytisch arbeitende Kunsthisto- 
riker. Bisheriger Höhepunkt dieser Aktivitäten ist zwei- 
fellos die 1988 im Centre Pompidou in Paris durchgeführte 
Ausstellung «Les annees 50». Wie unsicher jedoch die Wer- 
tungen nach wie vor geblieben sind, zeigt sich gerade darin, 
dass Poliakoff in der Ausstellung zwar mit drei Werken prä- 
sent ist, in den Texten jedoch kaum erwähnt wird, und dass 
von Tobey ein einziges Bild ausgestellt wurde. Eine kriti- 
sche und emotionslose Aufarbeitung dieses Jahrzehnts 
wäre umso erwünschter, als das zeitgenössische 
Schrifttum, das weitgehend von engagierten Kunstkriti- 
kern dominiert wurde, eine Sprache spricht, die heute 
doch recht antiquiert wirkt. Gerade Poliakoff musste für 
weit hergeholte und gewagte Interpretionen hinhalten: 
Wie oft hat man in seinen Werken die alten russischen Iko- 
nenmalereien zu entdecken vermeint... Dabei scheint 
doch seine künstlerische Herkunft viel näher liegend. Er 
hat als junger Mann Kandinsky kennengelernt, ebenso wie 
Werke anderer Meister der russischen Avantgarde des Kon- 
struktivismus. Gerade im Bild «Composition en bleu» 
wirkt konstruktives Erbe in den klar gegeneinander abge- 
setzen Farbflächen, den präzisen Verspannungen der ein- 
zelnen Bildebenen deutlich nach. Die trockene, sich auf 
das Wesentliche konzentrierende Malweise steht innerhalb 
seines Schaffens an der Schwelle zur Reifezeit, in der die 
«peinture», die malerische Vibration der einzelnen Farbflä- 
chen, eine zunehmend grössere Rolle einnehmen wird. In 
diesem Sinne kontrastiert dieses Bild mit «Bleu mono- 
chrome» von 1955, das durch eine viel weiter gehende 
Strukturierung der Bildoberfläche, gemilderte Hell- 
Dunkel-Kontraste und grösseren Nuancenreichtum ge- 
prägt ist. «Composition en bleu» markiert den Beginn einer 
neuen Epoche, und es ist sehr wohl nachvollziehbar, was 
der Schenkgeber dem Schreibenden gegenüber betont hat: 
dass ihm dieses Werk in seiner damaligen Auseinanderset- 
zung mit der aktuellen Kunst besonders wichtig war. Und 
es darf wohl hinzugefügt werden: es war sicher auch dem 
Künstler ein zentrales Werk, das er nur in die Sammlung 
eines Engagierten weggeben wolle. 1954 bereits hat es Franz 
Meyer vom Künstler erwerben können. 
«White Writing», nur zwei Jahre nach dem Bild von 
Poliakoff entstanden, repräsentiert hingegen die Phase der 
voll ausgebildeten Stilmerkmale des Künstlers. Denn 
anders als Poliakoff hat Tobey eine lange künstlerische 
Inkubationszeit durchgemacht. Er ist 16 Jahre älter als 
Poliakoff, hat in den mittleren dreissiger Jahren seine ersten 
persönlichen Ausdrucksweisen, u.a. auch die weisse 
Schrift, entwickelt, aber der Schritt zur völligen Abstrak- 
tion und zur offenen Struktur ist erst in den späteren vier- 
ziger Jahren vollzogen worden. In jener Dekade somit, in 
der seine «White Writing» konsequent entwickelt worden 
sind. Unser Bild steht somit im zeitlichen wie im inhaltli- 
chen Sinne im Zentrum seines Schaffens; es ist in einer Zeit 
entstanden, in der Europa noch keine Notiz von Tobey 
genommen hat. Seine erste Einzelausstellung auf dem 
alten Kontinent fand erst 1955 in der Galerie Jeanne Bucher 
in Paris statt -d.h. im selben Jahr, als er in den bereits 
erwähnten dritten «Tendences actuelles» erstmals einen 
Beitrag innerhalb einer Gruppenausstellung hatte. 
Das bereits wiederholt angekündigte, sich in verschie- 
denen Ansätzen manifestierende Revival der fünfziger 
Jahre ist noch keineswegs abgeschlossen — auch im Kunst- 
haus nicht. Unsere beschränkten Platzverhältnisse zwingen 
uns immer wieder, ganze Werkgruppen im Keller zu lagern. 
Auch die Malerei der fünfziger Jahre würde Besseres ver- 
dienen. Ob die Kunsthaus-Erweiterung, im Berichtsjahr in 
der Planungsphase weiter getrieben, hier Linderung 
bringen wird? Hoffen wir es! 
Felix Baumann
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.