Volltext: Jahresbericht 1989 (1989)

Ende. Um beim weissen Winkel zu bleiben: Gleich links 
davon erscheint schattenhaft wie übermalt ein zweiter, in 
dem die Innenseite das Grau als positive Ecke hervortreten 
lässt, während der erstere an der Aussenseite selbst das Grau 
als Grund zurückdrängt. Als Fläche betrachtet, umschliesst 
er einzelne kurze Pinselstriche, durch die er aufgebaut 
wird; rechts davon aber bestimmt ein einzelner grosser Pin- 
selhieb die Fläche, die er einnimmt. Mit dem Rot daneben 
und der überlagernden bein- und fussartigen schwarzen 
Umrisse tritt hier auseinander, was darüber den menschli- 
chen Körper bildet. Werden rechts Volumen und schwarze 
Linien als umreissende, modellierende oder als sprechende 
Zeichen in Tafel, Blitz und Beil wirksam, lebt der linke 
Flügel nur von Farben und Flächen; Linien erscheinen 
allenfalls uneigentlich als Grenzen oder als Pinselwerk wie 
in der lyrisch abstrakten oberen Randpartie. 
Statt hier mit den malerischen Problemen weiterzufah- 
ren — der geneigte Betrachter kann etwa als nächstes das 
Verhältnis von Stilleben und Binnenrahmung, von Positiv- 
und Negativform in Blumenvase und «Schlüsselloch» in 
Angriff nehmen =, wird nun die zuletzt analysierte Gegen- 
überstellung der beiden Hälften als Weiche in eine andere 
Fragerichtung benützt, die hochtrabenderweise ontholo- 
gisch genannt werden könnte. Nämlich: Was ist hier? 
Materiell zunächst: Leinwand mit Farbpigmenten in Bin- 
demittel, genannt Eitempera. Sodann ist hier eine sehr 
komplizierte Anordnung dieser Pigmente, ausgerichtet auf 
die Wahrnehmung des Auges, das komplexe Muster von 
Farben und Flächen, von dem bisher die Rede war. Mit dem 
Hinweis auf den rechts zu sehenden Körper kommt man 
auf eine dritte Seinsebene: die Illusion von Dreidimensio- 
nalität auf der Fläche, die bekanntlich die abendländische 
Malerei von Giotto bis zum Impressionismus oder 
Kubismus bestimmte und die von der modernen Kunst 
verworfen oder wenigstens problematisiert wurde. Die 
Bildfläche soll nicht mehr wie für Alberti ein Fenster ın 
einen imaginären Raum sein, sondern die Sache selbst, ein 
autonomes Bild, eine Fläche, auf der Farben und Formen 
als solche und deshalb um so intensiver zur Geltung 
kommen. Dies führte bekanntlich zur abstrakten Kunst, 
die nach dem letzten Krieg im Westen zur ziemlich unum- 
schränkten Herrschaft gelangte. Einige Maler aber fanden, 
man könne dieser modernen Forderung Genüge leisten, 
ohne auf die weiteren Dimensionen zu verzichten, die auf 
der erkennbaren Wiedergabe von in der Wirklichkeit vor- 
handenen Gegenständen beruht. Da die menschliche 
Wahrnehmung pausenlos darauf aus ist, irgendwelche 
Farbflecken zu in der Realität möglichen Körpern zusam: 
menzusetzen und ihnen einen Ort im Raum zuzuweisen, 
muss der moderne Maler ebenso pausenlos darauf aus sein, 
diese Hirntätigkeit zu durchkreuzen, um die Bildfläche 
und mit ihr die primäre Bildwirksamkeit seiner Gebilde zu 
retten. Verglichen mit den hochartifiziellen Frakturie- 
rungen des Kubismus oder der lockerer wirkenden, aber 
nicht weniger komplexen Ornamentalisierung von Matisse 
erweist sich die Lösung von Baselitz, nämlich das Motiv auf 
den Kopf zu stellen, als ebenso natürlich einfach wie ele- 
gant zweckmässig. Als er 1969 auf sie stiess, begann denn 
seine Produktion nach den gewaltsam pandämonischen, 
den in Farbfelder und Linien zerlegten «Helden» und den 
Gestalt zerhackenden Frakturbildern, zu denen der beson: 
ders hinterlistige «Katzenkopf» des Kunsthauses zählt, wie 
befreit zu fliessen. Welche Virtuosität er im Verlauf der sieb- 
ziger Jahre so erreichte, zeigt aufs Schönste der bildhaft 
monumentale Linolschnitt, den Herr Zumsteg dem Kunst: 
haus schenkte. 
Tatsächlich wird mit der Umkehrung die Dominanz der 
[lusionierungstätigkeit wirksam unterbrochen, die Auf- 
merksamkeit vom gegenständlichen Inhalt zu den for- 
malen Flächenbeziehungen verschoben. Bilder auf den 
Kopf zu stellen, um ihre ornamentale Stimmigkeit zu 
prüfen, gehört entsprechend zu den alten Ateliertricks; 
blättert man einen Bildband von Veronese oder einem 
anderen Grossmeister der dekorativen Gestaltung verkehrt 
durch, lässt sich dieses Procedere genussvoll und mit 
erstaunlichen Entdeckungen unerwarteter Korrespon 
denzen, Spannungsbögen, Farbgefüge nachvollziehen. 
Dass es dabei nicht ohne Irritationen abgeht, versteht sich: 
Beine etwa wirken oft unmässig lang — entsprechend krüp- 
pelhaft kurz erscheinen die Extremitäten vieler Baselitz- 
Figuren, wenn sie probeweise auf die Füsse gestellt werden. 
Überhaupt wäre es naiv zu übersehen oder zu leugnen, dass 
die generelle Umkehrung durch Baselitz auch ein schockie- 
tendes Element enthält, das anfänglich nach eigenen Aus- 
sagen auch durchaus beabsichtigt war. Denn das aufrechte 
Stehen bestimmt nicht nur das Bewusstsein. sondern das
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.