ganze tatsächliche Dasein des Menschen so wurzeltief, dass
schon im alten Ägypten, als erstmals eine orthogonal
geordnete Bildwelt entstand, die Umkehrung zur Kenn-
zeichnung der zum Nicht-Sein Verdammten diente. Und
so ist es über die Schandgemälde von an den Füssen
Gehenkten in der italienischen Renaissance bis zu Klees
spätem Stilleben mit der Urne geblieben, das sich umge-
dreht als modernde Unterweltslandschaft entpuppt. Aber
es gehört zum Steigerungs- und Innovationszwang der
Moderne, dass das Selbstverständliche und damit für die
Wahrnehmung Abgenutzte aufgebrochen und im uner-
wartet Anderen eine ursprünglich frische Sensibilität zu-
rückgewonnen oder wenigstens gesucht wird. Daraus resul-
tiert die bezeichnende Spannung von manieristisch über-
steigerter Künstlichkeit und gesuchter Primitivität: ein kon-
stitutives Merkmal vieler moderner Kunst, das nur von
Wenigen so klar erkannt und so überzeugend zur Geltung
gebracht wurde wie von Baselitz.
Macht man mit dem Diptychon kurz die Gegenprobe
und stellt das Kopfständige auf die Füsse, um im konkreten
Falle zu sehen, was die Umkehrung bewirkt, zeigt sich zwei-
erlei: die Figur gewinnt an plastischer Präsenz und wird
zugleich banaler, das Stilleben entfaltet sich überraschend
räumlich von der Tischecke nach hinten, so dass das
Schwarz nicht mehrals Fläche auf der Bildtafel, sondern als
Raumdunkel wirkt, das sich hinter dem bräunlichen Bin-
nenrahmen in die Tiefe öffnet. Den zwei Flügeln sind
somit die beiden wesentlichen Aspekte der dreidimensio-
nalen Illusion zugeordnet: Körper und Raum, und
zugleich die spezifischen Kunstmittel, die zu ihrer Errei-
chung dienen: Linie und Modellierung respektive Farbe
und Tiefe. Damit erreichen wir einen neuen Verzweigungs-
oder Knotenpunkt, der eine weitere Sinnebene einführt:
die inhaltliche Aussage.
Dass in der modernen Kunst der gegenständliche Inhalt
völlig irrelevant sei, gehört allerdings zu den beliebtesten
kunstliterarischen Klischees, und Baselitz haut selbst tapfer
in diese Kerbe: alles nur Vorwand und Anlass für Malerei.
Nachdem das ganz überwiegende Interesse der menschli-
chen Psyche an der Wahrnehmung von Gegenständen und
der Kampf der Künstler, solche oberflächliche Sehensweise
zu überwinden, bereits festgestellt wurde, erstaunt diese
extreme Einseitigkeit, dieses Überbetonen der formalen
Aspekte kaum. Tatsächlich machen sie ja das Eigentliche
der Kunst aus, und in den siebziger Jahren beherrschten sie
die Produktion von Baselitz ziemlich unumschränkt. Aber
gerade die zunehmend virtuose Sicherheit in der Handha-
bung der Peinture scheint gegen Ende des Jahrzehnts das
Bedürfnis nach einer Neubestimmung geweckt zu haben;
das für seine Malerei so merkwürdig nichtssagende «Mani-
fest» von 1978 «Vier Wände und ein Oberlicht» mag als
Schritt in diese Richtung gewertet werden.
Der Durchbruch entwickelte sich erst im folgenden
Jahr. Im Hinblick auf die Biennale 1980 malt Baselitz drei
Diptychen «Deutsche Schule», «Die Familie» und «Das
Atelier», die in ihrer thematischen Konzentration auf Her-
kunft und Nation, Ehe und Heim, Maler und Werk zu
wichtige Bereiche des Menschen und Künstlers anspre-
chen, als dass ihr Inhalt gleichgültig sein könnte. Dies wird
unterstrichen durch das im gleichen Zusammenhang ent-
standene «Strassenbild», eine kürzlich vom Kunstmuseum
Bonn erworbene monumentale Gruppe von 18 Tafeln, die
als Welt der äusseren Begegnungen zum inneren Kreis der
Diptychen tritt. «Das Atelier» wäre als das zentrale Stück
dieses manifestartigen Werkensembles, vielleicht des
bedeutungsreichsten der bisherigen Produktion des Künst-
lers, zu interpretieren; es sel hier nur bemerkt, dass es
sowohl inhaltlich wie formal die Klammer der beiden
Serien bildet. Das Thema konfrontiert den Maler und sein
Werk, exemplifizıert am Stilleben, das dank seiner inhaltli-
chen Neutralität und ästhetischen Manipulierbarkeit seit
Chardın und Cezanne als Musterbeispiel für reine Malerei
dient. In seinem primären Charakter als Bild wird es betont
durch den Binnenrahmen, der auch im «Strassenbild» eine
massgebliche Rolle als Kompositionsmittel spielt. Dort
umgibt er einzelne Figuren, die im Charakter dem Maler
im «Atelier» gleichen, auch wenn sie impulsiver und sum-
marischer gegeben sind. Am nächsten aber stehen ihm die
beiden Männer mit Tafeln, die sich sowohl durch ihren
weisslich-grauen Grund gegenüber dem üblichen blauen
und bräunlichen als auch durch das Fehlen der Rahmung
von den anderen Teilen des Zyklus unterscheiden.
Die Gestalt des Malers präsentiert sich im Profil seinem
Werk zugewandt; dazwischen liegen die symbolischen
Werkzeuge Blitz und Beil, die das herrische und aggressive
Verhältnis des Schöpfers zum Geschöpf bezeichnen. In